Christiane Geiser
Der Dialog nach David Bohm. Eine Einführung.
Vortrag
im transdisziplinären Studiengang "Wissenschaft und Weisheit",
Universität Zürich, März 2000
Im
diesem Studiengang geht es um Wissenschaft und Weisheit oder um die Frage: können
wir wissenschaftliche Anliegen weisheitlich behandeln? Kann ein echter Dialog
entstehen und nicht nur die übliche, uns nur zu gut bekannte Art und Weise,
sich anschliessend an Referate darüber zu "unterhalten" (diskutieren,
debattieren, Reden schwingen, Recht haben wollen, andere überzeugen wollen, frustriert
schweigen ...).
Der
Dialog als Kommunikationsform ist ja nicht neu: wir finden ihn in der
Philosophie (Martin Buber) und in der Psychotherapie im Zentrum aller
klientenzentrierten Verfahren (Carl R. Rogers), wir kennen Formen von "im
Kreis sitzen und reden" aus nahezu allen alten Kulturen. Wir alle kennen
auch Momente innerhalb eines Gesprächs, in dem die dialogischen Qualitäten
spontan anwesend sind.
Übung: woran
erkenne ich eine sogenannt "gelungene" Kommunikation? An Dingen, die
dann "da" sind oder eher an Dingen, die fehlen? Als es das letzte Mal
so war: Was hat dazu beigetragen, dass
aus einem Gespräch ein Dialog wurde? Was war mein Beitrag, was der der anderen?
"Diese Momente in eine Disziplin zu verwandeln, die
lern- und lehrbar ist", ist das Anliegen der Bohmschen Dialogprojekte.
Wenn also in diesem Vortrag von "Dialog" die Rede ist, verwende ich
den Begriff nicht alltagssprachlich, sondern im Sinne David Bohms. Er definiert
Dialog (dia=durch, logos=Wort) als "freien Sinnfluss, der unter uns, durch
uns hindurch und zwischen uns fliesst". Im Gegensatz dazu haben Wörter wie
Diskussion, Debatte und Disput von ihrer Herkunft her immer einen trennenden
Anteil (discutere: zerschlagen, zerteilen, zerlegen; battuere: schlagen,
disputare: auseinanderschneiden).
1.
David Bohm
David
Bohm kam nicht aus einem Berufsfeld, in dem die Entwicklung einer neuartigen
Gesprächsform sozusagen erwartet wird. Er war Physiker und lebte von 1917-1992.
Es gibt über ihn eine hervorragende, sehr ausführliche und bewegende Biographie
seines Mitarbeiters David Peat mit dem Titel "Infinite
Potential". Ich fasse nur die
wichtigsten Lebenslinien zusammen:
Bohm
wurde geboren als Sohn eines jüdischen Möbelhändlers in Pennsylvania. Als Kind
faszinierte ihn die Welt der Sterne, des Kosmos, des Lichts, er war fanatischer
Leser von Science-fiction-Literatur. Er studierte dann später Physik, u.a. in
Berkeley CA als letzter Graduierter unter Robert Oppenheimer. Er doktorierte
1943, lehrte an der Princeton Universität Quantenmechanik und Teilchenlehre,
führte Dialoge mit Einstein.
Dank
seiner grosszügigen Denkweise, die auch Neugier und Offenheit gegenüber
kommunistischen Ideen zuliess, geriet er unter Mc.Carthy auf die schwarze Liste.
Er weigerte sich, vor dem Ausschuss seine KollegInnen zu verraten, wurde
verhaftet, entlassen und verliess Amerika - er hat nie wieder dort gelehrt.
In
Brasilien hatte er eine Professur in Sao Paulo, beschäftigte sich mit
Kausalität, Determinismus, Zufall und nicht-linearen, chaotischen Prozessen.
1954 ging er nach Haifa in Israel, wo er seine spätere Frau Saral kennenlernte.
Mit ihr zusammen ging er nach England, zuerst nach Bristol und später ans
Birckbeck College in London, dort blieb er bis zu seinem Tod.
Bohm
war ein transdisziplinärer Wissenschaftler, ein leidenschaftlicher Sucher,
interessiert an allen essentiellen grenzübergreifenden Fragen, auch ausserhalb
seines Fachgebiets. Er ist auch interessanterweise in anderen
Wissenschaftsgebieten ernster genommen worden als in seinem Hausgebiet, der
Physik. Bohm war tief besorgt um den Zustand der Wissenschaften und der Welt.
Er verfolgte unbeirrt die Vision, dass Menschen gleichberechtigt,
partizipierend zusammen sein und gemeinsam etwas entwickeln können.
Wissenschaft könne für alle zugänglich
gemacht und würde so zu einem transformierenden Werkzeug für die Veränderung
der Gesellschaft werden.
Bohm
war ein holistischer Denker. Er führte lange Jahre Dialoge mit Krishnamurti
über östliche Philosophie und die Ganzheit des Daseins. Schon in seinen
frühen physikalischen Arbeiten über
Plasma ging es ihm um Ganzheit, Wechselwirkung und Verbundenheit statt um
das Betrachten der „Einzelteile“, und
seine spätere Theorien der "Holobewegung" und der "impliziten
Ordnung" lassen das noch deutlicher werden. Materie und Geist sind nicht
getrennt, postuliert Bohm, sie sind ein Ganzes. Explizit /ausgefaltet seien die
Formen, die Ordnungen von Raum und Zeit, die mechanischen Kräfte, unsere ganze
bekannte und von uns wahrgenommene Welt unabhängiger Objekte. Aber darunter, auf einer tieferen
Ordnungsstufe, liege
implizit/eingefaltet eine verborgene Ordnung, die eigentliche fundamentale primäre
Realität, holographisch sei in ihr das ganze Universum eingefaltet, aus ihr
entfalten sich in zyklischen Bewegungsabläufen immer neue kreative Formen,
vergehen wieder, bilden sich ähnlich oder anders neu. "Whatever
we call reality, it is revealed to us only through an active construction in
which we participate" , sagt I. Prigogine. Bohm stellte
eine Analogie her zwischen Quantenprozessen und unserer Art zu denken. Denken
und Sprache haben ihn sein Leben lang fasziniert, eine Weile lang suchte er
eine Sprache (und wollte Kinder darin unterrichten!), die nur aus Verben
bestehen sollte, damit das Dinghafte, Fixe unserer Sprache in ein
Prozess-Sprechen übergehen könnte.
Das,
was Bohm später "Dialoggruppen" nannte, lernte er selber kennen in
einer Klinik während einer seiner depressiven Phasen, an denen er von Zeit zu
Zeit litt. Ein Soziotherapeut namens Patrick de Mare bot solche Gruppen an, die
anders waren als die damals üblichen Lern- oder Trainingsgruppen oder die
psychologischen Selbsterfahrungsgruppen. Bohm entwickelte dieses Verfahren
weiter und wollte es vor allem für die Wissenschaft nutzen. Sein Vorschlag war z.B., dass auf Kongressen
nicht die hübsch geordneten und geglätteten Endresultate vorgestellt werden
sollten, sondern dass die Vortragenden alle Zuhörenden teilhaben lassen sollten
am Prozess ihres Denkens, ihrer Vorannahmen bezüglich des Themas, ihres Wegs zu
den Ergebnissen - dieses Vorgehen würde eine gänzlich andere Art von
Wissenschaft ergeben!
In letzten Jahren seines Lebens gründete Bohm mit seinen
KollegInnen überall Dialoggruppen, erprobte sie und schrieb darüber.
Mittlerweile ist der "Bohmsche Dialog" weltweit eine Art von verbindender Vision geworden und wird,
interessanterweise vor allem im Bereich der Unternehmenskultur ("lernende
Organisationen"), immer mehr praktiziert.
Für die
Idee des Dialogs sind Bohms Vorstellungen über eine implizite/explizite Ordnung
insofern interessant, als er annimmt, dass es unser Denken ist, das die
ursprüngliche Ganzheit teilt. Wenn wir denken und strukturieren, Begriffe
wählen, Teile und Trennungen erschaffen, Annahmen und Notwendigkeiten erfinden,
fragmentieren wir etwas, reissen wir etwas auseinander und umgeben etwas mit
Grenzen, das ursprünglich ganz ist. Dass wir das tun, ist nicht das Problem,
wir brauchen zur Verständigung untereinander ja fest definierte Begriffe, konsensuell
entstandene Strukturen. Das Problem entsteht erst, wenn wir vergessen, dass wir
das getan haben und zu glauben beginnen, dass wir es mit objektiven Realitäten
zu tun haben, die unabhängig von unserem Denken existieren. "Der
Denkprozess denkt, dass er gar nichts tut, sondern einem nur mitteilt, wie die
Dingen eben sind", sagt Bohm, und dahinter steht die Annahme, dass das
Denken Erfahrungen so beschreibt, wie sie sind, "als gäbe es ein Fenster
für eine ungefilterte Wirklichkeit, die ausserhalb einer Person
stattfindet" . Das ist natürlich ein folgenschwerer Irrtum. Bohm nennt
dieses erinnerungsgeleitete, alte, unüberprüfte Denken "thought" im
Unterschied zu "thinking", dem neuen, frischen, im Moment
entstehenden Denken. Wobei anzumerken ist, dass Denken für Bohm eine
ganzheitliche Funktion des Organismus ist und nicht nur eine mentale Aktivität,
es schliesst Fühlen, Empfinden, Feldwahrnehmung, Stimmungen etc. ein.
Folgerichtig
fordert Bohm, dass "Propriozeption" (unsere Fähigkeit, auch mit
geschlossenen Augen genau zu wissen, wo unsere Arme und Beine im Moment im Raum
sind) uns offenbar im Bereich des Denkens fehlt und wir sie unbedingt dort einführen müssen.
Diese
Eigenwahrnehmung des Denkens (mitzubekommen, wie die Denkbewegung sich in uns
vollzieht, wie Absicht, Ergebnis und Folgen des Denkens aussehen) kann sich in
einem Dialog ereignen, wenn alle Beteiligten den Denkprozess verlangsamen,
beobachten und öffentlich machen. Dem Denken auf die Spur zu kommen, und zwar
dem individuellen und dem kollektiven, ist das erklärte Ziel der Dialoggruppen.
2.
Dialogische Fähigkeiten
Auch
der Dialog, der ja ein kollektives Unternehmen ist, beginnt, wie alle grossen
Disziplinen, mit individueller Arbeit
("homework", wie Bohm das manchmal humorvoll nannte). Dialogische
Fähigkeiten sind in der Regel nicht einfach vorhanden, sondern brauchen Übung
und Schulung.
Drei
Hauptfähigkeiten, die es uns erleichtern, in einem Dialog präsent zu sein, will
ich hier beschreiben
a)
Wahrnehmen:
Wahrnehmung
erfolgt über das Bemerken von Unterscheidungen, von Differenzen. Dazu muss ich
verlangsamen, hinhören, hinschauen, hinspüren: was ist alles da? Was finde ich
vor?
Übung:
versuchen, für einen Moment aus dem Zuhören/Mitschreiben/Mitdenken
auszusteigen, die Augen zu schliessen und probieren, allerlei wahrzunehmen:
habe ich noch Geräusche, Stimmen, Sätze im Ohr? Denke ich selber etwas, rede
ich mit mir? Habe ich innerliche Bilder? Stelle ich mir etwas vor? Spüre ich
meinen Körper, so wie ich gerade auf dem Stuhl sitze? Was nehme ich an
Körperempfindungen wahr? Rieche/schmecke ich etwas? Was für Gefühle bemerke ich
im Moment bei mir? Was denke ich?
Vielleicht bemerke ich, dass ich das eine besser
wahrnehmen kann als das andere, ich also sozusagen eine
"Lieblings-Wahrnehmungsart" habe. Es kann auch kaum wahrnehmbare
Bereiche geben, Wahrnehmungsmodalitäten, in denen ich nicht geübt bin.
Wichtig
ist beim Wahrnehmen, dass ich mit der Zeit merke, dass ich meine Aufmerksamkeit
richten kann, d.h. dass ich aktiv meine
Wahrnehmung an einen Ort lenken kann und von einem anderen weg, dass mir das
nicht einfach passiert. Das heisst: dort habe ich eine Wahl!
Eine
weitere wichtige Fähigkeit ist, Wahrgenommenes zu trennen von meinem inneren
Kommentar dazu, von der Beurteilung/Bewertung des Wahrgenommenen: Kann ich
bemerken, wie eng das oft verknüpft ist? Kann ich eine Wahrnehmung (ich
schwitze, ich fühle mich ärgerlich) unterscheiden von einer Bewertung (und das
finde ich blöd, das sollte nicht sein, das finden die andern sicher schrecklich)
und diese beiden Dinge wieder auseinandernehmen? (Die "Leiter der
Schlussfolgerungen" wieder herabsteigen, heisst das in der Bohm-Literatur,
z.B: jemand raschelt mit Papier oder kommt zu spät, während ich einen Vortrag
halte - daraus schliesse ich blitzschnell, er ist nicht interessiert, lehnt mich
ab, ihm ist langweilig...usw.)
Übung: das Bild mit der Werbung für den Polizistenberuf: wie reagieren wir spontan? Das
heisst: was für Vorurteile rufen wir ab?
Unabdingbar
ist also die Fähigkeit, meine Selbstbeobachtung zu schulen: Kann ich eigene
Stereotypien, Vorurteile, Glaubenssysteme, Muster erkennen resp. mich darum
bemühen, das zu tun? Kenne ich meine Eigenarten und meine bestimmte Art, die
Welt zu sehen - und kann ich notfalls darauf verzichten?
All das
sind ohnehin schon hilfreiche Bedingungen, um mit sich und der Welt
zurechtzukommen - und die Welt mit uns! Für einen Dialogprozess im Sinne Bohms
beschreibe ich jetzt explizit noch die beiden Aktivitäten, die am meisten
gebraucht werden und die Bohm in einem
speziellen Sinn ausformuliert: Zuhören und Sprechen.
b) Zuhören
Zuhören
gilt als wichtigste Qualität. Sie ist eine Aktivität, nicht ein Zurücklehnen
und passiv Geschehenlassen. Sie kann unterteilt werden in drei verschiedene
Unterkapitel:
sich
selber zuhören: Die oben schon beschriebenen Fähigkeiten tauchen
hier wieder auf: Selbstwahrnehmung in verschiedenen Modalitäten
("Propriozeption"),
Verlangsamen, Daten und private Interpretation der Daten trennen ("Leiter
der Schlussfolgerungen" oder
"Abstraktionsleiter"), Gewohnheiten und Stereotypien
aufspüren. Kann ich meinen inneren Monolog wahrnehmen? Ihn eventuell sogar für
einen Moment anhalten? Bemerke ich, wie ich innerlich argumentiere, formuliere,
zustimme oder ablehne? Was mich aufregt, ärgert, zufriedenstellt? Nehme ich
meine begleitenden Gefühle wahr und meine Körperempfindungen, wie ich atme,
mich bewege oder nicht?
Im
Dialog-Prozess ist jetzt zusätzlich zur Wahrnehmung noch eine aktive Leistung
gefordert, nämlich das, was Bohm "suspendieren" nennt. Das heisst,
dass wir darauf verzichten, das, was wir beim uns selber Zuhören entdecken,
anderen aufzunötigen, wir unterdrücken es aber auch nicht, halten es nicht
zurück. Wir lassen es sich entfalten und halten es dann "in der
Schwebe", "hängen es vor uns auf", damit wir mit Hilfe der
anderen unsere Annahmen, unsere Glaubenssysteme, all das, von dem wir annehmen,
dass es doch ohne Zweifel so „sei“, neu anschauen und erforschen können. So
werden unsere Überzeugungen zugänglich für alle und können sozusagen auf dem
Display betrachtet und besser verstanden werden. "Suspension" ist
eine schwierige und beeindruckende Kunst.
den
anderen zuhören: "People do not listen, they reload!"
Wer kennt das nicht aus Gruppengesprächen und Diskussionen: noch während
jemand anderer redet, bereite ich mich körperlich, gefühlsmässig und mental auf
eine Entgegnung vor, werte die Worte des Sprechenden auf oder ab, beziehe
Gegenpositionen oder erkläre mich einverstanden, formuliere innerlich schon meine
Antwort. Ich tue alles möglich, nur eines tue ich nicht: zuhören. Mein Zuhören
ist defensiv oder strategisch, ein zutiefst egozentrischer Akt. Wirkliches
Nur-Zuhören ist eine aktive Leistung, eine unschätzbare Qualität, das wissen
wir aus den Verfahren, die mit dieser Haltung arbeiten, z.B. den
klientenzentrierten Richtungen nach Rogers. Dort sind diese
Beziehungsbedingungen explizit formuliert: Empathie, Kongruenz und Akzeptanz.
Die erste Bedingung zum Zuhören sei Mut, sagt Rogers einmal, weil wir selber
dann riskieren, verändert zu werden. In einer Dialoggruppe wird das noch einmal
anders beschrieben: während ich meine eigenen Überzeugungen und Annahmen in der
Schwebe halte, höre ich denen der anderen zu, bemerke und suspendiere meine
automatischen Reaktionen, bin interessiert am Anderssein des anderen. Ich höre den Inhalten zu, aber auch den
Pausen, der Stimmlage, dem Tonfall. Das ist mehr als nur Toleranz, sondern aus
der Philosophie Bohms wird eine andere Interpretationsmöglichkeit denkbar: das
Votum des anderen ist auch eine Auffaltung/Ausfaltung des zugrundeliegenden
Impliziten, eine Art und Weise, das Gesamtpotential zu realisieren, eine
Facette der "Wahrheit", des Ganzen. Eine, die ich auch hätte
realisieren können? Eine, die "auch ich" sein kann, wenn in der Tiefe
keine Fragmentierungen existent wären? Wir müssen Bohms ontologische Deutung
der Quantenrealität nicht teilen, aber der Aspekt, dass "das andere"
einfach nur eine andere Art und Weise ist,
wie sich die implizite Realität durch diesen Menschen äussert, gibt nach meiner Erfahrung eine neue
Qualität in den Dialog hinein, vor allem, wenn es um kontroverse oder emotional
hoch besetzte Themen geht. Es ist eine gute Übung, zu denken: "this too is
in me". "Das"Nicht-Ich" (was im Wort "Toleranz"
immer noch enthalten ist) wird zum "Auch-Ich".
dem
Gruppenganzen zuhören: Mit diesem Schritt geht der Bohmsche
Dialog als kollektives Verfahren über die übliche Art, uns in Gruppen zu
bewegen, deutlich hinaus. Wir üben, die aktive Zuhörfähigkeit auf die Gruppe
auszudehnen. Kann ich dem "Gruppenlebewesen" zuhören? Was tun wir
gerade, was lassen wir aus, wie bewegen wir uns, wer trägt was bei oder nicht,
welche Gesamtatmosphäre herrscht, was bahnt sich an? Jedesmal, wenn jemand
etwas sagt, ändert sich ja subtil das Ganze. Kann ich die gemeinsame Realität
wahrnehmen? Oder, wie es manchmal heisst, was ist der Elefant, dessen Teile wir
hier gerade beschreiben? All das erfordert einen grösseren
Blick/Hör/Spürwinkel, ein ausgedehntes Körperfeld, eine Bereitschaft, unser
"Selbst" nicht innerhalb unserer Hautgrenzen zu verorten, sondern
bereit zu sein, die Vorstellung eines individuellen "Selbst" als
Fragmentierung zu erkennen und es versuchsweise anders zu spüren: als
"Gruppen-Selbst" für eine Weile, vielleicht auch als
"relationales Selbst". Das ist die Voraussetzung, dass dann auf einer
kollektiven Ebene Emergenzen stattfinden können, Kreativität entsteht. Bohm hatte die Vision, dass sich so das
Potential realisieren kann, das sich durch uns, in uns als Gruppe entfalten
will. Sein Blickwinkel als Quantenphysiker ist sowieso radikal anders als der
übliche: da gibt es eigentlich keine Teile, die sich addieren oder
zusammenfügen oder deren Beziehungen wir anschauen könnten. Nein, die
Blickrichtung ist gerade umgekehrt. Es gibt das Ganze, und nur durch
Messung/Beobachtung entstehen so etwas wie "Teile". Der Bezugspunkt
ändert sich dadurch, wichtig sind auch nicht persönliche Freundschaften unter
den Beteiligten, sondern der "Geist der unpersönlichen Gemeinschaft "
("impersonal fellowship").
c) Sprechen
Wie
steht es nun mit der komplementären Aktivität zum Zuhören, dem Sprechen? Was
veranlasst jemanden zum Sprechen, welche Art des Sprechens ist im Dialog
angemessen?
Generell
gilt, dass es günstig ist, jede schnelle automatisierte Antwort zu suspendieren
und in eine untersuchende Frage umzuwandeln. Diese besondere Art des Sprechens
wird in der Bohm-Literatur "inquiry" genannt (von inquaerere: im
Innern suchen), erkundendes Sprechen, fragen, herausfinden, aufrichtig wissen
wollen, interessiert sein. Das Interesse richtet sich auf meine eigenen
Annahmen, auf die der anderen und vor allem auf die kollektiven, die uns als
"implicit knowing" verbinden. Gesprochen wird meist nicht zueinander
oder aufeinander bezogen (d.h. zum Lieblingsgegner resp. Lieblingsunterstützer
hinüber!), sondern zur Mitte, in den Raum zwischen uns hinein, so dass alle
Beteiligten freie Sicht haben auf all
die "aufgehängten" Annahmen und sich neue kollektive Intelligenz
entwickeln kann. Alle sprechen "von Herzen", mit eigener, deutlicher,
unverwechselbarer Stimme -und sind gleichzeitig Teil des Ganzen, eine Facette,
eine Ausfaltung der Potentialität, mehr
nicht. Das macht die einzelnen gleichzeitig wichtig und unwichtig, personales
und interpersonales Dasein sind gleichzeitig notwendig. Bohm nennt das
"Partizipation", und manchmal ist diese grundlegende Interdependenz
in einer Gruppe geradezu sinnlich wahrnehmbar.
4.
Praxis des Dialogs
a) Bedingungen
Ein
Dialogprozess lässt sich nicht erzwingen, auch wenn man noch so sehr will. Es
lassen sich aber, wie immer bei Selbstorganisationsprozessen, förderliche
Bedingungen verwirklichen, von denen ich die wichtigsten auflisten will:
·
Eine Dialoggruppe braucht einen festen Rahmen: Ort, Zeit,
Dauer.
·
Erfahrungen mit der Gruppengrösse pendeln zwischen 10 und
50 Personen.
·
Rollen- und Status-Eigenschaften sind für die Dauer des
Dialogs aufgehoben.
·
Es braucht eine gegenseitige Verpflichtung, für eine
Weile dabei zu bleiben.
·
Der Zweck des Unternehmens muss klar sein: wir wollen
diese Art von gemeinsamer Erkundung erproben. Der Dialog kann nicht
funktionieren, wenn diese Vorgabe nicht von allen geteilt wird.
·
Obwohl in der Unternehmenswelt und im Feld der
"lernenden Organisationen" auch der sogenannte "strategische
Dialog" praktiziert wird (z.B. wenn zur Lösung von firmeninternen
Problemen eine Dialogbegleitung engagiert wird), haben Bohm und seine
KollegInnen immer nachdrücklich für den freien ("generativen") Dialog
plädiert: d.h. es gibt kein Thema, kein Ziel, nichts soll erreicht werden,
nichts muss herauskommen.
·
Eine Dialogbegleitung wird höchstens am Anfang im Sinn
einer "Minimalförderung" benötigt, sie macht sich mit der Zeit
überflüssig. Ihre Aufgabe ist es, die Teilnehmenden von Zeit zu Zeit an die
dialogischen Qualitäten zu erinnern, wenn diese in der alltäglichen Art von
Umgang verlorenzugehen drohen.
·
Die Grundhaltung ist die des Lernen-Wollens, nicht die
des Schon-Wissens.
b) Erfahrungen
Typisch
für diese Gruppen sind verschiedene Phasen von Unsicherheiten (W. Isaacs
beschreibt sie in seinem Dialogbuch). Der allmähliche Verzicht auf die
gewohnten individuumzentrierten Denk-, Fühl- und Handlungsweisen macht dann
aber langsam anderen Sicherheiten Platz. Es ist nicht mehr so wichtig, alles zu
sagen, auf einzelne und einzelnes Bezug
zu nehmen, andere genau zu verstehen, selber genau verstanden zu werden. Es
kann vorkommen, dass das Thema einer Person scheinbar verschwindet und dann auf
einmal bei einer anderen Person wieder auftaucht. Es ist auch nicht wichtig,
den eigenen Standpunkt zu schärfen und andere zu überzeugen, einen möglichst
stimmigen Konsens zu erreichen oder einer bestimmten Meinung zum
Abstimmungssieg zu verhelfen.
Der
Fokus liegt auf einer anderen Prozessbewegung: immer wieder werden einzelne und
zunehmend dann auch kollektive Vorannahmen, scheinbar klare Voraussetzungen, in
der Schwebe gelassen, bis sich im Gruppenganzen neue emergente Phänomene
beginnen abzuzeichnen oder manchmal sprunghaft erscheinen. Es entstehen
Rhythmen, Muster, Ordnungen in dem scheinbar ungerichteten Fluss der Gruppe.
Niemand kann allein zu dieser Form des Denkens vorstossen.
Ein
Dialog ist meiner Meinung nach ein radikales, subversives Unternehmen. Er löst
alte Sicherheiten auf und schafft nicht sofort neue. Er scheint mir für unterschiedliche Berufsgruppen auch
unterschiedlich herausfordernd zu sein:
ManagerInnen, LehrerInnen, TherapeutInnen oder KünstlerInnen müssen an
je anderen Stellen ihrer Berufsidentität ihre Vorannahmen überprüfen, ihre
üblichen Verhaltens- und Denkmuster in Frage stellen. Das kann eine grosse
Herausforderung sein.
Der
Dialog beschwört die alte/neue Vision
eines gemeinschaftlichen selbstverwalteten Lebens herauf, den sich auffaltenden
Prozess von kreativer Partizipation zwischen Gleichgestellten. Für viele
Dialog-Übende wird es dann fast nicht mehr vorstellbar, hinter diesen Ansatz
zurückzugehen - eine echte Herausforderung, wenn wir in unseren Alltag
zurückkehren! Eine Schulung im Dialog kann eine hohe gesellschaftspolitische
Relevanz haben und den vernetzen Zusammenhängen, in denen wir leben,
angemessener sein als individuumzentrierte Verfahren oder andere Gruppenformen.
In unserer Welt brauchen wir, so meine
ich, solche neuen Formen kollektiven
Denkens, und deshalb möchte Ihnen diesen Ansatz ans Herz legen und Sie
ermutigen, sich während dieses Studiengangs darin zu üben.
Literatur von und über
David Bohm und über den Dialog:
David Bohm, Der Dialog. Das offene Gespräch am Ende der Diskussionen, Klett-Cotta
1998.
David Bohm, Die implizite Ordnung. Grundlagen eines dynamischen Holismus, Goldmann 1987
David Bohm, Die verborgene Ordnung des Lebens, Auamarin 1988
David Bohm, On Creativity,
Routledge 1998
David Bohm, Thought as a System,
Routledge 1994
David Bohm/David Peat, Science, Order, and Creativity, Routledge 1 987/2000
·
Biographie:
F. David Peat, Infinite Potential. The Life and Times of David
Bohm, Addison-Wesley 1997
·
Quantenphysik und Gesellschaft:
Danah Zohar, The Quantum Self, Human Nature and Consciousness
defined by the New Physics, Quill/William Morrow 1990
Danah Zohar, The Quantum Society, Mind, Physics and a New Social
Vision, Qiull/William Morrow, 1994
·
Praktische Arbeit mit dem Dialog:
Ellinor, Linda / Gerard, Glenna, Dialogue: Rediscover the
Transforming Power of Conversation, John Wiley and Sons 1998
William
Isaacs, Dialogue and the Art of Thinking Together. Currency 1999
auf Deutsch:
M. und J.F.Hartkemeyer/L. Freeman Dhority, Miteinander Denken. Das
Geheimnis des Dialogs, Klett-Cotta 1998
Peter Senge u.a., Das Fieldbook zur Fünften Disziplin, Klett-Cotta 1996
·
im WWW sind zahlreiche Aufsätze und Erfahrungsberichte über
Bohm-Dialog-Gruppen zu finden, Einstieg über:
Selected
Websites on Dialogue
http://www.uia.org/dialogue/webdial.htm
Anschrift der Autorin:
Christiane Geiser
Weierhofgasse 9
9500 Wil
Tel.: 071 910 17 90 Fax: 071 910 17 91
Email: cg@tbwil.ch
Homepage des Ausbildungsinstituts GFK für
klientenzentrierte Körperpsychotherapie: http://gfk.freepage.de
(Dialog-Training in Vorbereitung)
Homepage des Focusing-Netzwerks mit Austauschforum über
den Bohmschen Dialog: http://come.to/focusing-netzwerk