dialog im aktsaal

Zu unserem Dialog über die "richtige" Interpretation der Expo liefere ich noch den Artikel von M. Heller nach, den ich eingangs ausführlich zitiert habe. RT.


Neue Zürcher Zeitung, 26.10.2002, Nr. 249, S. 16 Form und Inhalt - oder: Die Expo auf Madagaskar?
Von Martin Heller, künstlerischem Direktor der Expo 02


Das dritte Leben der Expo hat begonnen. Jenes wichtigste Leben, das erweisen wird, was bleibt. An Bildern, Erinnerungen, Erkenntnissen - Fundus einer Nachhaltigkeit, die das ganze Land einschliesst. Was hat uns allen die Landesausstellung gebracht? Doch wer bilanziert, tut das auf Grund von Interessen. Und darum leistet sich der künstlerische Direktor in seinem fünften und abschliessenden NZZ-Beitrag zur Landesausstellung den Luxus, seinen eigenen Interessen nachzugehen.
Zwar stehen die Bauten noch und erzählen vom Grossereignis, das die Expo 02 war. Aber die Kraft, die sie mit Sinn auflud, gibt es nicht mehr. Zurück bleibt Material. Die Abbauer und Entsorger sind daran, dieses Material nach sämtlichen Regeln ihrer Kunst zu reduzieren. Dennoch existiert die Landesausstellung noch immer. Sie hat sich ein letztes Mal verwandelt - in einen Nachhallraum und in ein virtuelles Gefäss gelebter Erinnerungen und Projektionen.
Wir sind eingetreten in den langen und verwickelten Prozess der Bilanzierung. Wobei wir davon ausgehen müssen, dass dieser Prozess im Grunde ein Kampf ist - ein Kampf um die "richtige" Deutung der Landesausstellung, aber auch um die Rahmenbedingungen, die ihrer Wirkung gesteckt werden. Wobei offen bleiben muss, wie sehr diese Wirkung überhaupt gesteuert werden kann; die Beispiele der letzten Landesausstellungen zeigen, dass sich erst nachträglich jene Lesarten geformt haben, die uns heute "die" Landi 39 oder "die" Expo 64 plausibel machen.

Vieles in Bewegung gebracht

Auf diese Situation einzutreten, lohnt sich. Im Hinblick darauf, dass jede Bilanz der Landesausstellung als Gesamtphänomen - dem einstigen "fait social total" der Soziologen - gerecht werden müsste. Denn die Expo 02 hat bei einem enorm breiten und zahlenmässig grossen Publikum allzu vieles in Bewegung gebracht, als dass es politisch einen Sinn ergäbe, finanzielle oder projekttechnische Mängel beziehungsweise Unberechenbarkeiten allein in den Vordergrund zu spielen.
Nun gibt es allerdings Argumentationen, die scheinbar griffige Erkenntnisse bzw. Urteile zur Expo 02 anbieten, ohne dass ihr doppelter Boden kenntlich würde. Darunter jene, die hartnäckig bei jeder Gelegenheit wiederholt, die Landesausstellung habe zwar durchaus respektable Formen geliefert, sei uns jedoch wirkliche Inhalte schuldig geblieben: aussen fix und innen nix.
Eine subtilere Variante derselben Figur besteht darin, der Landesausstellung zwar so etwas wie "Inhalt" zuzugestehen, aber den falschen. Das heisst: einen universalen und deshalb seinen nationalen Zweck verfehlenden Inhalt. Volkstümlich gewendet kommt das dann so daher, dass beanstandet wird, die Expo 02 und ihre Themenausstellungen hätten ebenso gut in Tokio, Brüssel, Madrid oder auf Madagaskar stattfinden kännen. Oder noch platter: dass die Schweizer Landesausstellung nicht genügend schweizerisch war.
So reizvoll die Vorstellung ist, was die Japanerinnen und Japaner mit der "Heimatfabrik", die Belgier mit "Strangers in Paradise" und die Spanier mit "Swiss Love" anfangen würden, von der Vision, der Monolith läge nicht vor Murten, sondern vor Madagaskar, ganz zu schweigen - ich ziehe es vor, die konkrete Antwort schuldig zu bleiben und mich stattdessen dem Modell zu widmen. Denn die Diskussion von Form und Inhalt rührt an entscheidende Momente der Expo 02.

Kopfwehfragen

Form und Inhalt also. Das tänt nach Tod & Teufel, Sein & Haben, Lindt & Sprüngli. Form und Inhalt: Was meint das wirklich? Aussen und Innen? Design und Substanz? Aufwand und Ertrag? Was ist im Falle der Expo 02 überhaupt "Form"? Dasselbe mit "Inhalt" bzw. den Inhalten der Expo 02 - ist "Inhalt" das, was innen ist? Und wo ist innen? Beispielsweise bei der Wolke als prominentestem Fall, aber schon nur bei der "Werft", im "Garten der Gewalt" oder bei der "Expoagricole"?
Kopfwehfragen. Ernst genommen, führen sie direkt in die komplexe bildtheoretische Erärterung dessen, was überhaupt ein Kunstwerk ist (auch dann, wenn es, wie so oft in der Expo 02, nicht als solches deklariert ist) und wie es wirkt. Aber davon nehme ich Abstand. Schliesslich ist die Landesausstellung wie kaum eine andere kulturelle Veranstaltung dazu geeignet, mit Unschärfen zu spielen, bestimmte Fenster offen zu halten, Ambivalenzen ebenso zuzulassen wie Banalitäten. Um handkehrum doch am Einzelfall aufscheinen zu lassen, welche Potenz an Wirklichkeitssichten in jeder auch nur halbwegs intelligent inszenierten Ausstellung steckt.
Also frage ich anders. Zwei Aspekte sind es zumal, auf die ich Antwort suche. Erstens: Wer hält der Expo 02 vor, keine Inhalte zu liefern, sondern nur Formen? Und zweitens: Was steht hinter dem Versuch, die Wirkung der Landesausstellung auf diese Weise zu beeinflussen?

Erfolg auch ohne Lernziel-Cluster

Zum Ersten: Die Allianz hinter dem Vorwurf ist in einer für die Expo typischen Weise ausgesprochen heterogen. Sie versammelt Kulturpessimisten, für die sich Unterhaltung (Form) und Bildung (Inhalt) von vornherein ausschliessen, neben Heimattümlern, die es nicht ertragen kännen, das Nationale primär über individuelle, subjektive Erfahrungen in und mit der Schweiz thematisiert zu sehen statt über kollektive Strukturen, Embleme und Appelle. Dazu kommen ideologische Hardliner von rechts bis links, die jede naturgemässe Offenheit von Inhalten, die über Ausstellungserlebnisse vermittelt wird, ersetzt haben mächten durch nachprüfbare, didaktisch wasserdichte Lernziel-Cluster. Und schliesslich Wissenschafter, deren historisches Bewusstsein sich mühelos über jede zeitgenässische Wirklichkeitserfahrung zwischen Lifestyle, Erlebnismarketing und Design hinwegsetzt und auf einer anachronistischen Trennschärfe von Form und Inhalt ihrer zukünftigen Quellen beharrt.
Zum Zweiten: Die Expo 02 ist zwar keineswegs ohne Fehl und Tadel, aber sie ist - davon bin ich überzeugt - ein Erfolg. Auch und gerade weil sie sich in erster Linie kulturell definiert (und damit weder politisch noch äkonomisch), eine künstlerische Sprache spricht und einer Haltung Vorschub leistet, die Kurt Imhof in positivem, da entlastendem Sinne "Patriotismus light" nennt.
Darum die Schlussfolgerung: Ich vermute, dass nur ein kleiner Teil derer, die der Landesausstellung mangelnde Inhaltlichkeit vorwerfen, den Erfolg der Expo nicht sieht. Aber offenbar ist dieser Erfolg nicht willkommen. Warum? Weil er dazu zwingt, politische Vorurteile aufzuläsen, und offene Identitätskonstruktionen befärdert - gerade auch bei der jungen Generation, die von allen Besuchergruppen die Expo am positivsten beurteilte?

Goodwill, der genutzt sein will

Wer zu bilanzieren versucht, nimmt Deutungsmacht in Anspruch. Und wer die Expo 02 als Expo der fehlenden Inhalte denunziert, schwächt ihr soziales Vermägen von vornherein. Das ist umso fataler, als sich die Landesausstellung in einer schwierigen Phase befindet. Zumindest ein Teil der Bilanzierung wirkt - ob positiv oder negativ - auf die soziale und kulturelle Nachhaltigkeit der Expo 02 zurück und damit auf die Frage, ob etwas von ihrer Kraft in den Alltag zurückzufliessen vermag.
Basis für einen solchen Rückfluss ist jener enorme Goodwill, den das Projekt geschaffen hat. Bei den allermeisten Besucherinnen und Besuchern, aber auch bei den Mitarbeitern der Expo"02. Am Dienstag, welcher der Schliessung der Arteplages folgte, haben diese grässtenteils jungen Menschen in einer langen Nacht Abschied genommen von ihrer Expo. An einem der magischen Orte der Landesausstellung, im Cargo Club der Arteplage Neuenburg, umstellt von Baumaschinen, im Zeichen der Aufläsung. Die Energie, die in diesem Fest zu spüren war, hat mich tief berührt. Form und Inhalt verbinden und zugleich überwinden heisst: diese Energie nutzen.

630439, NZZ , 26.10.02; Words: 1128 , NO: 8HC3O