Die Einladung zur Table d’Hôte im Hotel «Bregaglia» ist so geheimnisvoll gehalten, wie sich der Ort gibt. Das kleine Grandhotel in Promontogno im Bergell, ein Relikt aus versunkener Zeit, thront unterhalb des felsigen Sperrriegels, der das Tal teilt. Tief unten tost die Maira.
Pünktlich um halb acht werden die Gäste erwartet. Für uns ist im Salon des Mittelturms gedeckt. Geätztes Jugendstilglas, Goldrahmen, Kandelaber. In der Mitte des Raums der weiss gedeckte Tisch, mit Platz für ein Dutzend Gäste: das «Spielfeld» der kommenden Stunden. Die Regeln, im Einladungsschreiben aufgeführt, werden rekapituliert. Sie scheinen einfach, trügerisch einfach. Wir sind frei in der Sprache, in der wir uns äussern wollen, es gibt keinen Gesprächsleiter und kein vorgegebenes Thema und: Nur eine Person spricht zur selben Zeit.
Triffst du mittags um vier Uhr ein, so kommst du doch nicht vor neun Uhr zum Nachtessen. Sie tischen nicht auf, bevor offensichtlich niemand mehr zu erwarten ist, damit alle auf einmal abgefertigt werden können. Das Durcheinander der Sprachen und Menschen ist nicht geringer als einst beim Turmbau von Babel . Fällt ihnen ein Ausländer auf, der nach etwas Besserem aussieht, so gaffen sie ihn alle an, als wäre eine neue Tierart aus Afrika angekommen, und vergessen darüber das Essen, schrieb 1518 Erasmus von Rotterdam über die deutschen Gasthäuser. Französische Reisende beschwerten sich in ihren Berichten über die Qualität und Einfältigkeit der Gerichte, und Louis Sébastien Mercier beklagte sich Anfang des 18. Jahrhunderts in seinem Werk «Tableau de Paris» über die damals übliche Art, wie in Gaststätten serviert wurde. Es sei unangenehm, inmitten von zwölf Unbekannten sitzen zu müssen. Die besten Plätze seien durch Habitués besetzt, die mit unermüdlichem Mahlwerk alles verschlängen zum «malheur à l’homme lent à mâcher ses morceaux». Zwischen solch flinken und gefrässigen Kormoranen sei man zum Fasten verurteilt.
Das Entrée wird aufgetragen, die Kelche werden mit Wein gefüllt. Alle am Tisch scheinen ihr Augenmerk auf die Synchronizität der Bewegungen zu richten, versuchen einen gemeinsamen Takt zu finden. Für ein grosses Thema scheint es noch zu früh, man mahlt gemächlich. Der Geist hingegen ist aufmerksam, und der Blick schweift in die Runde. Die Konturen der Gegenüber gewinnen an Schärfe. Niemand macht den Vorschlag sich vorzustellen. Trotzdem beginnt man mit Einschätzungen. Die Blasse, die so gewunden spricht, und der Schnauzer, der ihr dauernd ins Wort fällt, scheinen ein Paar zu sein.
«Welt, was würdest Du verlieren!»
Das Entrée ist die Zeit des Smalltalks, der Causerie. Der Abend steht noch bevor, man wärmt sich auf und ist um Wohlbefinden und Einklang bemüht, beides stellt sich beim richtigen Mass an Nähe und Distanz ein.
In den besuchteren Bergwirtshäusern wird abends 7 oder 8 Uhr Tafel gehalten, was mehr bequem als gesund ist. Wer Land und Leute nicht nur nach der Schablone der unruhigen, kellnerbeherrschten Hotels kennen lernen will, der wird gut tun, gelegentlich in einem kleinern Orte und Wirtshause einzukehren und einfache ländliche Gerichte mit der langen Table d’hôte zu vertauschen; wer aber zur Tafelzeit mit gutem Appetit in einen grossen oder kleinen Gasthof einkehrt, benutze stets die Table d’hôte, kommentierte Iwan von Tschudi in seinem Reiseführer von 1899. Seine Empfehlung konnte allerdings nicht verhindern, dass die Table d’Hôte dem individuelleren Service an kleinen Tischen Platz machen musste. Der konjunkturelle Aufschwung gegen Ende der 1880er Jahre und der Bau von Bergbahnen erschlossen die touristischen Destinationen einer neuen, grösseren Klientel. Die Ansprüche an Bedienung und Komfort wuchsen. So löste auch das Zimmer mit Toilette und Badewanne das Etagenbad ab. Doch gegen die Abschaffung der Table d’Hôte regte sich Widerstand: Es ist zweifellos so, dass in besseren, grösseren Passage-Hotels die Table d’hôte im gewöhnlichen Sinn sich überlebt hat, der Vergangenheit angehören wird. Nicht so in Kuranten-Hotels; da wird die Table d’hôte der Mittelpunkt des Pensionärlebens bleiben. So ein alter Pensionär ohne Table d’hôte lässt sich gar nicht denken. Ach wie schön ist’s doch an der Table d’hôte, wie lässt sich herrlich satt essen und – über das Essen schimpfen, ach nur ein bisschen! Und der Geschäftsreisende, wenn der nicht mehr an der Table d’hôte seine faulen und geistreichen Witze anbringen könnte – Welt, was würdest Du verlieren!?, tönte es 1902 in der Illustrierten Monatsschrift der Hotel-Gewerkschaft Union Helvetia.
Mit dem Hauptgang wird’s gewichtig
Der Hauptgang kündigt sich an, die Gläser werden nachgefüllt. Jetzt oder spätestens wenn die Teller wieder abgetragen werden, scheint es an der Zeit, Gewichtiges aufs Tapet zu bringen. Der Wechsel stellt sich ein, wenn ein Gast auf einer spürbar anderen Ebene einsetzt, mit Fragen, Beobachtungen oder etwas Persönlichem. Ein solcher Moment verlangt subtile Aufmerksamkeit, weil er richtungweisend für den weiteren Gesprächsverlauf ist. In der Folge entsteht zwischen den einzelnen Wortmeldungen Leerraum oder besser: Denkraum. Steige ich ein? So oder so, ich beeinflusse das weitere Geschehen mit und bin Teil des Geschehens; während des ganzen Abends wird dies nie deutlicher spürbar. Warum sich ein Themenschwerpunkt herauskristallisiert, bleibt ein Rätsel. Der Schnauzer jedenfalls spitzt jetzt die Ohren selbst dann, wenn die Blasse mit Worten ringt und wundersam spricht. Gut möglich, dass ihm das Essen und der Wein den Biss genommen haben.
Die Table d’Hôte löste sich nach und nach auf, zuerst in den Städten, später auch in den Kurorten, und dies, obwohl dadurch Personal- und Warenkosten stiegen. Jules Klopfenstein verwahrte sich in seinem 1929 erschienenen Buch «Der Tafeldienst» allerdings gegen die Annahme, der Service bei einer Table d’Hôte sei einfacher als der Einzelservice. Er beansprucht sogar grössere Pünktlichkeit, folglich andauernde Aufmerksamkeit, und muss zu seiner gründlichen Ausführung etwas militärisch aufgefasst werden. Man darf seine Tätigkeit nicht eigenmächtig auffassen, sondern muss sich stets nach dem Oberkellner richten. Wenn dieser klingelt, muss man sich beeilen, ihm zu Diensten stehen, selbst wenn eine Arbeit noch nicht beendet ist.
Der kleine Kaffee zeigt an, dass der Abend in die Schlussrunde geht. Der Schnauzer schnappt der Blassen das Schokoladeherz weg – also doch. Die Runde ist aufeinander eingestimmt, man spricht häufiger in die Mitte und weniger zu einer bestimmten Person. Voraussetzungen dafür sind eine Tischform, bei der sich alle – ohne sich verrenken zu müssen – in die Augen schauen können, und ein Durchmesser, bei dem auch leisere Töne vernehmbar sind. Wenn es gelingt, dass nur eine einzige Person spricht und ihr die andern folgen, entsteht ein ruhiger Gesprächsverlauf, der Raum zum Nachdenken lässt. Auch darüber, wann es an der Zeit ist aufzubrechen.
Information
Kulinarische Gesprächsrunden werden gepflegt von:
denk art: Barbara Walter & Beat Campiche, Bern. Tel. 031/382 71 17.
Dialogverfahren: Zentrum Boldern, Männedorf. Tel. 01/921 71 11.
Philosophie im Gartenhaus: Martin Kunz, Zürich. Tel. 079/430 97 14.
Bohm-Dialoggruppe: Romi Zürrer, Zürich. Tel. 01/361 85 86.
Dialog im Aktsaal: www. hyperkommunikation.ch/dialog-im-aktsaal.
Table d’hôte im Hotel «Bregaglia»: Promontogno. Tel 055/241 25 20.
Quelle: DIE WELTWOCHE NR. 14 • 4. APRIL 2002 47 Reisen