Flusser, Vilém: Kommunikologie. 1998, Graph. Darst. 312 g. 355 S. Forum Wissenschaft. Kultur & Medien. Fischer-Tb. (13389). SFr. 23.00, ISBN 3-596-13389-0
Zusatztext
"Kommunikologie", so nannte Vilém Flusser seine Theorie menschlicher Kommunikation, die im Mittelpunkt seines Werks steht. Der vorliegende Band enthält zwei grundlegende Texte Flussers zu diesem Problemgebiet: Texte, die zentrale Motive seines Denkens erschließen. Die menschliche Kommunikation ist für Flussers jener Prozeß, durch den Informationen gespeichert, verarbeitet und weitergegeben werden, aber auch stetig neue Information erzeugt wird. Die Kommunikologie beschäftigt sich dabei vor allem mit den Formen und Codes dieser Informationsvermittlung, deren Kommunikation in Computernetzen verfolgt: Mit seiner Kommunikologie hat Flusser nicht nur eine Theorie, sondern auch eine scharfsinnige Diagnose unserer Informations- und Kommunikationsgesellschaft ausgearbeitet.
"Wenn der Mensch als der "andere" Gottes und Gott als der "andere" des Menschen angesehen wird, dann versteht es sich von selbst, daß jeder Mensch als "mein anderer" für mich ein Aspekt Gottes ist. Um dies untheologisch zu sagen: In dem Maß, in dem ein anderer "du" zu mir sagt, und nur in diesem Maß, kann ich mich als ein "ich" annehmen. Daher ist die jüdisch-christliche Religiosität der Ausdruck einer Anthropologie, laut welcher der Mensch erst im Dialog mit anderen Mensch wird. Das meint die Bibel, wenn sie sagt, der Weg zu Gott gehe durch die Liebe zum Nächsten. Es handelt sich hier weder um eine Vermenschlichung Gottes (eine anthropomorphe Theologie), noch um eine Vergöttlichung des Menschen (eine theomorphe Anthropologie), sondern um eine Sakralisierung des anderen." (S. 295)
"Akzeptiert man die vorgeschlagene These als Arbeitshypothese, dann gewinnt die jüngst entstandene Netzstruktur ein geradezu faszinierendes Interesse. Man kann sich nämlich fragen, ob, und wenn ja, in welchem Maße Netzsysteme wie das Telefon und die Post in den Dienst jenes Aspekts des Dialogs gestellt werden können, den die jüdische Analyse betont und der in den traditionellen Medien zu kurz kommt. Wenn Medien wie Marktplatz und runder Tisch einer utopisierenden Politik gedient haben, aber es heute nicht mehr tun können, werden in der Zukunft Medien wie Post und Telefon einer messianisierenden Politik dienen?
Eine solche Frage ist nicht so absurd, wie sie auf den ersten Blick zu sein scheint. Denn das Charakteristische an der Netzstruktur ist geradezu, daß jeder Partner des Dialogs mit jedem anderen verbunden ist, also "du" zu ihm sagen kann, und daß das Fehlen einer Mitte, wie sie die Kreisstruktur aufweist, das Interesse vom Thema ablenkt und dem dialogischen Prozeß selbst zuwendet. Man geht auf den Markt, um etwas zu tauschen, aber man telefoniert, um mit jemandem zu sprechen." (S. 297)
"An vielen Orten lassen sich Versuche beobachten, neue Netzstrukturen aufzustellen. Kabeltelevision, programmierte Erziehung, Computerdialoge, Telex einerseits, Videobänder, Graffiti, soziologische Kunst, Gruppentherapie andererseits sind Beispiele für solche Versuche. Auch die chinesischen Wandzeitungen und die Kibbuzim lassen sich in diesem Zusammenhang erwähnen. Man kann den Eindruck bekommen, daß überall das Gefühl wach wird, daß Netzdialoge zu einem politischen Leben in einem neuen, vorher nie verwirklichten Sinn führen können. Aber es läßt sich auch nicht leugnen, daß sich dies alles im Empirischen abspielt. Eine der wichtigsten Herausforderungen an eine tatsächlich wirksame Kommunikationstheorie besteht darin, diese Experimente theoretisch zu stützen." (S. 298)
==> Code
Vilém Flusser hat eine Theorie zur Kommunikation aufgestellt, die wir auf die Entwicklung des Internets beziehen können. Er hat Kommunikationsstrukturen zunächst in zwei Kategorien eingeteilt. Die eine ist eine diskursive Struktur, die klar zwischen Autor, Sender und Empfänger unterscheidet. Allein der Autor kann gleichzeitig auch Sender sein. Unter dieser Struktur hat Flusser vier Modelle der Kommunikation zusammengefaßt:
1. Die Pyramide: An der Spitze steht ein Sender/Autor, der die Information an Übermittler verteilt, deren Funktion es ist, die Empfänger zu unterrichten. Als Beispiel könnte die Kirche mit ihrer hierarchischen Struktur genannt werden.
2. Der Baum: Flusser unterscheidet ihn in zwei Punkten von der Pyramide. Zuerst steht an der Spitze kein Autor sondern ein Prinzip, wie bspw. in der Wissenschaft. Die Übermittlungsstellen sind nicht hierarchisch, sondern dialogisch aufgebaut und die Empfängergruppen analysieren und kritisieren die erhaltenen Informationen, sodaß es zu einem Prozeß der gesteuerten Vermehrung der Information kommt.
3. Das Theater: Dieses Modell ist dadurch gekennzeichnet, daß der Sender und eine Gruppe von Empfängern einander zugewandt sind und sich der Sender mit dem Rücken zu einer Wand befindet, die daß dahinterliegende abschirmt. Diese Situation treffen wir in der heutigen Pädagogik im Sinne von Frontalunterricht an. Hierbei kann der Sender sowohl nur Vermittler einer Reproduktion (das Beispiel im Text, dem ich diese Theorie entnommen habe, ist das Kino, um aber bei der Pädagogik zu bleiben finde ich das Bild des Lehrers als Vermittler hier angebrachter) oder auch Urheber der Information sein (hier wird als Beispiel eine Vorlesung benutzt, welches dann besser zu dem von mir gewählten Beispiel des Lehrers zu passen scheint). Flusser fügt hinzu, daß diese Struktur und nicht irgendeine Dialogform die Kette der Generationen (Wissensweitergabe von Großeltern über Eltern zu Kindern usf.) bildet.
4. Das Amphitheater: Hier bilden Sender und Empfänger keine Einheit, sondern der Sender kann sich an einem beliebigen Ort befinden, von dem aus er in den offenen Raum sendet und der Empfänger befindet sich ebenfalls im offenen Raum, wo er von allen Seiten Informationen erhält, die zunächst an keinen konkreten, körperlichen Sender gebunden sind. Das heißt, der Sender sendet ohne konkreten Adressaten und der Empfänger befindet sich, nach Flusser, nicht in einer Phase der Konzentration, wie im Theater, sondern der grenzenlosen Zerstreuung. Flusser sagt, es herrscht totale Kommunikation bei totaler Kommunikationsunmöglichkeit. Dieses Modell entspricht den herkömmlichen Massenmedien.
Die zweite, übergeordnete Struktur ist eine dialogische, in der es keine Trennung der Funktion von Autor, Sender und Empfänger mehr gibt und alle Beteiligten sowohl Sender als auch Empfänger sind. Diese Struktur umfaßt wiederum zwei Kommunikationsformen:
5. Der Kreis: Im Kreis sind die beteiligten Kommunikationspartner um eine leere Mitte versammelt, in der sich die Information durch den Dialog bildet. Als Beispiel nennt Flusser den Marktplatz, aber auch den runden Tisch oder das Laboratorium...
6. Das Netz: Im Netz erfolgt die Synthese der Information durch die Diffusion im Netz und jeder beteiligte Partner bildet das Zentrum des Dialogs. Als Beispiele werden das Telefon, die Post oder - und jetzt komme ich zu dem für die Arbeit entscheidenden Punkt - Computernetzwerke genannt.
Nach Flusser bildet diese Formation die Grundlage aller Kommunikation, welche letztlich alle vom Menschen ausgearbeiteten Informationen in sich aufsaugt, also den Anfang und das Ende der Kommunikation. Flusser ging davon aus, daß gut ausgearbeitete Netzsysteme dem Amphitheater der Massenmedien die Stirn bieten können