Kauffman, Stuart: Der Öltropfen im Wasser, Piper München 1996
Die Erforschung der Evolutionsstrategie
Wichtige Gedanken aus Stuart Kauffman: Der Öltropfen im Wasser"
1. Die Vielfalt und Ähnlichkeit selbstorganisatorischer Prozesse in fast allen von den Natur- und Gesellschaftswissenschaften untersuchten Bereichen legt es nahe, daß es allgemeine Gesetzmäßigkeiten gibt, die das Entstehen geordneter Strukturen in komplexen Systemen hinreichender Größe und Komplexität zur Folge haben. Wichtigste Eigenschaften geordneter Strukturen sind Stabilität gegenüber Störungen und Emergenz gegenüber den Einzelteilen, aus denen sie bestehen.
2. Während die zufällige Entstehung einer noch so einfachen regenerationsfähigen Nukleinsäure wegen der hyperastronomisch großen Zahl der Kombinationsmöglichkeiten der Ausgangsstoffe extrem unwahrscheinlich ist, kommt es in einer Ursuppe von zufällig vorhandenen organischen Molekülen zwangsläufig zur explosionsartigen Erhöhung der Anzahl unterschiedlicher Molekülsorten und im weiteren zur Ausbildung kollektiv - autokatalytischer Systeme, wenn eine gewisse Mindestanzahl unterschiedlicher Molekülsorten überschritten wird. Die Autokatalyse führt dann zwangsläufig zur Erhöhung der Zahl der dem autokatalytischen System zugehörigen Moleküle und zur Verminderung der Zahl der übrigen Moleküle. (Siehe im Detail )
3. In einem großen Boolschen Netzwerk gibt es viele Knoten, die sich durch Querverbindungen ein und ausschalten können. Die Zustände des Netzwerks durchlaufen Trajektorien, die in verschiedenen Attraktoren enden. Die zu einem Attraktor gehörenden Zustände werden zyklisch durchlaufen, die Zeit, in denen ein Attraktor durchlaufen wird, kann von Null bis praktisch unendlich liegen. Je kleiner ein Attraktor und je kürzer der Zyklus, desto geordneter ist das System. Wenn viele Ausgangszustände in den gleichen Attraktor einlaufen, ist das System stabil auch gegenüber zufälligen Mutationen (Änderungen einzelner Verschaltungen). Bei sehr langen Zykluszeiten oder sehr vielen Attraktoren ist das System chaotisch und instabil.
4. Ein Netzwerk ist durch die Anzahl der Knoten N und die Anzahl der Verknüpfungen je Knoten K klassifiziert, seine Eigenschaften werden numerisch - experimentell ermittelt. Netzwerke mit K=1 konvergieren schnell zu wenigen und kurzen Zyklen. Netzwerke mit N=K haben Zykluslängen von Wurzel 2^N und N/e Attraktoren und zeigen chaotisches Verhalten und Instabilität. Bei K=2 haben die Attraktoren eine Länge von Wurzel N Zuständen und demzufolge Zykluszeiten Wurzel N. Die Netzwerke sind geordnet und stabil und haben dennoch viele Attraktoren. Für K>3 ist das Verhalten der Netzwerte chaotisch, kann aber durch unsymmetrische Boolsche Funktionen zur Verknüpfung der Inputwerte in den geordneten Bereich überführt werden. Evolutionsfähige Netzwerke müssen einerseits stabile Zustände besitzen, also im geordneten Bereich liegen. Sie müssen gleichzeitig flexibel sein, d.h. sie müssen bei kleinen Veränderungen der Verknüpfungen veränderte Verhaltensweisen zeigen, in andere Attraktoren überspringen. Solche Eigenschaften haben Netzwerke, die am Rande des Übergangs zum Chaos liegen und komplexe Verhaltensweisen zeigen.
5. Die N Gene der Lebewesen bilden genomische Netzwerke mit schwachem Verknüpfungsgrad K =2, in denen während der Ontogenese parallele chemische Prozesse ablaufen, die längs der Attraktoren laufen und bei Störungen zu ihnen zurückkehren. An bestimmten Verzweigungspunkten werden die Prozesse durch Störungen auf benachbarte Attraktoren umgelenkt, wodurch die Diversivierung der unterschiedlichen Zelltypen beruht. Beim Menschen erfolgen bis zur Geburt etwa 50 Zellteilungen, wovon im Mittel jede 8. zu einer Verzweigung und damit zu 256 verschiedenen Zelltypen führt.
6. Wenn ein autokatalytisches chemisches System im Gleichgewicht ist, so führen zufällig erzeugte oder von außen eindringende weitere Molekülarten zur explosionsartigen Entstehung immer neuer Molekülsorten, die Diversität des System wird suprakritisch. Zellen sind wahrscheinlich subkritisch und erhalten diesen Zustand, da sie bei Eindringen unverträglicher neuer Substanzen durch Ansteigen der Diversität toxisch zugrunde gehen. Mehrzeller sind als ganzes suprakritisch, so daß in kontrollierter Weise die Vielfalt des Lebens entsteht. In gleicher Weise verhalten sich lokale Ökosysteme zur Biosphäre. Lokale Ökosysteme sind subkritisch und bewirken das Aussterben von Arten, wenn die Diversität der Arten zu stark zunimmt. Die Biosphäre als Ganzes ist jedoch suprakritisch und erhöht die Diversität der Arten ständig, bis lokale Ökosysteme, die sich der Diversität ihrer Arten nicht mehr erwehren können, als ganzes aussterben, in dem sie sich selbst vernichten. Man nimmt an, das es gegenwärtig auf der Erde etwa 10 bis 100 Millionen Arten gibt, während 99 bis 99,9% aller jemals existierenden Arten bereits wieder ausgestorben sind.
7. Es ist das Gesetz der Evolution, wenn der Mensch in Kürze mit Hilfe der Biotechnologie suprakritische Molekülsysteme herstellen kann, die sich von selbst zum Leben erwecken. Er wird es tun, obwohl er die Gefahren sieht und die Folgen nicht voraussehen kann.
8. Selektion kann nur wirksam werden, wenn die betreffende Art jeweils 2 Allele derjenigen Gene besitzt, die die Anpassung an die Umwelt bewirken. Mutationen der Gene sind zufallsbestimmt. Die Evolution erfordert aber Fitnesslandschaften, deren Gestalt nicht zufallsbestimmt ist. Adaptive Wanderungen führen in der Fittnesslandschaft stets aufwärts, bis ein lokaler Gipfel erreicht ist. Eine Art mit N Genen hat 2^N Genotypen und 2^N/(N+1) zufallsbedingte lokale Gipfel. Die Wahrscheinlichkeit für das Erreichen des höchsten Gipfel beträgt (N+1)/2^N. Bereits für einen Genotyp mit 100 Genen reicht das Alter des Universums nicht aus, um den höchsten Gipfel zu finden. Je höher der bereits erreichte Gipfel ist, um so schwieriger wird es, einen noch höheren zu erreichen. Die erfolgreiche Evolution setzt deshalb eine korrelierte Fitnesslandschaft voraus.
Wenn der Fitnessbeitrag jedes Gens unabhängig von dem jedes anderen Gens ist, entsteht eine korrelierte Fitnesslandschaft mit nur einem Gipfel. Hängt der Fitnessbeitrag jedes Gens von jeweils K anderen Genen ab, so wird mit wachsendem K die bei K=0 glatte Landschaft zunehmend zerklüftet, wobei die Anzahl lokaler Gipfel zunimmt und deren Höhe abnimmt. Computersimulationen zeigen, daß bei niedrigen K die höchsten Gipfel in Gruppen zusammenliegen und bei größeren K hohe und niedrige Gipfel gleichmäßig verteilt sind. Bei mittleren Werten von K (K=4 bei N=24) können die höchsten Gipfel von der größten Zahl der Ausgangspositionen erreicht werden.
9. Bei der sexuellen Fortpflanzung werden die zwischen verschiedenen Genotypen liegenden Eigenschaften ausprobiert. Dadurch springt der neue Genotyp in das dazwischen liegende Gelände. Das hat nur Sinn, wenn die Landschaft ziemlich hochkorreliert, aber noch zerklüftet ist, d.h. wenn K>0 aber noch klein ist.
10. Wahrscheinlich wird die Fitnesslandschaft durch Selbstorganisation in den geordneten Zustand mittlerer Zerklüftung geführt, weil nur dort unter der Einwirkung der Mutation stabile Organismen möglich sind. In einer solchen Landschaft hat die Selektion aber gerade gute Chancen, hohe Gipfel zu erklimmen.
11. In einer korrelierten Landschaft mit mittlerer Zerklüftung hat bei mittlerer Ausgangsfitness der "Weitsprung" über die Korrelationslänge der Landschaft hinaus die besten Chancen für eine schnelle Evolution, deren Geschwindigkeit aber exponential abnimmt, je höher die Fitness wird. Dabei entstehen Arten, die sich wesentlich voneinander unterscheiden. Mit zunehmender Fitness führt das Absuchen der näheren Umgebung durch kleine Mutationen zur schnelleren Evolution. Dabei entstehen Arten, die sich nur wenig voneinander unterscheiden und die lokale Gipfel erreichen. Bei genügend rascher Mutation können sich diese Arten längs Gipfelgraten auf höhere Gipfel bewegen oder sich an langsam veränderliche Landschaften anpassen.
Eine solche Entwicklung beobachtet man in der Kambrischen Explosion vor 550 Millionen Jahren, in der schnell bis zu 100 Stämme entstanden, von denen die meisten schnell wieder ausstarben, die übrigen 32 sich aber allmählich weiter verzweigten. Im Massensterben des Perm vor 245 Millionen Jahren starben 96 % aller Arten aus, aber sämtliche Stämme überlebten. Danach entstanden viele neue Gattungen und Arten, aber kein einziger neuer Stamm. Ähnliche Verläufe findet man bei technologischen Entwicklungen, z.B. bei Fahrzeugen, wobei die Geschwindigkeit der Evolution ebenfalls exponential abnimmt.
Bei zu hoher Mutationsrate zerstreuen sich die Mutanten und die Arten sterben aus, bevor eine Anpassung an sich verändernde Fitnesslandschaften durch Selektion zustande kommt.
12. Die Selektion setzt auf der Ebene der Individuen an, wirkt aber nicht auf der Ebene der Arten. Auf der übergeordneten Ebene vergesellschaften sich die Spezies und schaffen Ökosysteme mit ihren Nischen, in denen sie leben. Die Arten evolvieren in Fitnesslandschaften, die sie gegenseitig verändern (Koevolution). Auf einer dritten Ebene ändern sich die Formen der Wechselwirkung der Arten und damit die Verformbarkeit der Fitnesslandschaften. Der Prozess der Koevolution unterliegt selbst einer Evolution. Der Evolutionsprozess tritt zutage, wenn der Raum der Möglichkeiten viel zu groß ist, als das die Wirklichkeit sie alle ausschöpfen könnte.
13. In Ökosystemen können die Populationen der einzelnen Arten Gleichgewichtszustände erreichen, periodische Schwingungen ausführen oder chaotisches Verhalten zeigen. Wird in stabile Ökosysteme eine neue Art eingeführt, so wird sie entweder integriert oder ausgeschieden. Je mehr Arten zu einem Ökosystem gehören, desto seltener werden zufällig ausgewählte neue Arten integriert. Es wird eine Sättigungsgrenze erreicht. Wird aus einem stabilen Ökosystem eine Art ausgeschieden, so kommt es zu Extinktionslawinen weiterer Arten. Die Größe dieser Lawinen ist einer Potenz der reziproken Wahrscheinlichkeit ihres Auftretens proportional. Ein lokales Ökosystem wandert in seiner Fitnesslandschaft, indem es neue Arten aufnimmt oder ausmerzt.
14. Die Evolution der Arten und die Evolution der Ökosysteme stehen in Wechselwirkung miteinander. Die Arten entwickeln sich in ihren ökologischen Nischen, bis sie lokale Gipfel erreichen. Erreichen alle Arten eines Ökosystems lokale Gipfel, so folgt die Koevolution einer evolutionär stabilen Strategie (ESS), bei der alle Arten auf ihren Gipfeln verbleiben und die Fitnesslandschaft sich nicht mehr wesentlich verändert. Bei ausgeprägten Räuber-Beutebeziehungen sind die Fitnesslandschaften der betreffenden Arten stark negativ korreliert und leicht verformbar. Die lokalen Gipfel der Arten können sich dann schnell verändern und werden nicht erreicht, es kommt zum Wettrüsten verschiedener Arten, so daß das Ökosystem keine ESS erreicht und chaotisches Verhalten zeigt. Eine zielgerichtete Evolution ist nur im Übergangsgebiet zwischen ESS und Chaos möglich. Die geordnete ESS tritt auf, wenn die Zahl der Kopplungen der Genmerkmale innerhalb einer Art K groß ist und es viele lokale Gipfel für die Arten gibt, wenn die Anzahl der wechselwirkenden Arten S klein ist und wenn die Anzahl der Genkopplungen zwischen verschiedenen Arten C klein ist. Chaotisches Verhalten tritt ein, wenn K klein, S und C aber groß sind. Die höchste mittlere Fitness wird erreicht, wenn alle Parameter mittlere Werte annehmen: Dann sind die lokalen Gipfel genügend groß und verändern sich genügend langsam, so daß sie von den evolvierenden Arten gerade erreicht werden können. Während der Evolution stellt jede Art den Parameter K so ein, daß die mittlere Fitness des Ökosystems höchste Werte erreicht. Solange dies nicht erreicht ist, können neue Arten mit höherer Fitneß in die Nischen des Ökosystems eindringen und dort ansässige Arten verdrängen. Dadurch werden Extinktionslawinen ausgelöst, die die mittlere "Lebensdauer" der Arten vermindern und die ESS aus dem Gleichgewicht bringen. Höchste mittlere Fitness des Ökosystems ist gleichzeitig eine minimale Rate der Extinktion von Arten. Je jünger die Arten sind, um so höher ist ihre Extinktionswahrscheinlichkeit. Computersimulationen beweisen dieses Verhalten quantitativ. Eine Volkswirtschaft verhält sich wie ein Ökosystem von Technologien und Unternehmen.
15. Wenn in einem System mit N Elementen das Verhalten jedes Elementes nur von wenig (K) anderen Elementen beeinflußt wird, ist die Fitnesslandschaft des Systems stark korreliert und wenig zerklüftet, es gibt wenige hohe lokale Gipfel, die durch Optimierung des Verhaltens jedes Einzelnen Elementes erreicht werden können, wenn das Optimierungsziel zentral vorgegeben wird (Alle arbeiten für den Staat).
Wenn K groß ist, ist die Fitnesslandschaft wenig korreliert und stark zerklüftet, es gibt viele niedrige lokale Gipfel, von denen einer erreicht wird, wenn das Optimierungsziel zentral vorgegeben wird, der aber nicht wieder verlassen werden kann, weil dies dem Optimierungsziel widerspricht. Für ein so organisiertes System endet die Evolution auf einem niedrigen Gipfel.
Abhilfe kann geschaffen werden, wenn die Elemente zu Feldern zusammengefaßt werden, die ihre Optimierungsziele unabhängig vom Gesamtziel des Systems festlegen. Werden die Felder zu klein gewählt, so ergibt sich wegen vieler widersprechender Bedingungen chaotisches Verhalten mit niedriger Gesamtfitness. Werden die Felder zu groß gewählt, so fährt sich das System schnell auf niedrigen Gipfeln fest. Die höchsten Gipfel werden erreicht, wenn die Größe der Felder dicht an der chaotischen Grenze liegt, weil es dann unwahrscheinlich ist, daß alle Felder gleichzeitig ihr lokales Optimum erreichen und damit das System ständig in Bewegung bleibt. Es kommt also darauf an, die Größe der autonomen Felder der Komplexität des Systems anzupassen. Je komplexer das System, um so größer ist der chaotische Bereich und um so größer müssen die Felder gewählt werden. Bei zu großen K besitzt das System überhaupt keinen geordneten Bereich und verhält sich immer chaotisch. Dies entspricht dem Charakter der Komplexität, die zunächst mit K anwächst, dann aber in das Chaos abkippt.
Ein solches System kann nur stabilisiert werden, indem man die Abhängigkeit jedes Elementes von den anderen Elementen, d.h. K reduziert.
16. Die Komplexität wird reduziert, wenn man das Gesamtproblem in lose gekoppelte Felder mit starker innerer Kopplung zerlegen kann. Bei zentral vorgegebener Spezifikation der Aufgabe der Felder besteht das Problem in der richtigen Vorgabe der Spezifikation, weil sie meistens falsch ist und nicht dem eigentlichen Problem entspricht, das niemand kennt. Wichtiger als die richtige Spezifikation des zu lösenden Teilproblems ist deshalb die richtige Größe und Aufteilung der Felder, die durch Koevolution ihre Aufgabe selbst zu finden haben.
17. Eine Methode der Findung der richtigen Aufgabenstellung ist die "Empfängergestützte Optimierung". Bei dieser Methode berücksichtigt das jeweilige autonome Feld die Wirkung seiner Entscheidung auf einen Teil der mit ihm gekoppelten Felder.
18. Die technologische und wirtschaftliche Evolution weist die gleichen Merkmale auf wie die Evolution der Organismen und Ökosysteme. Technologische Diversität fördert das Wachstum. Die Systeme bewegen sich zum Rande des Chaos. Der Prozeß selbst läßt sich nicht aufhalten, der Mensch ist ein Bestandteil desselben und kann ihn nur lokal fördern oder hemmen, aber er muß ihn akzeptieren.