Mensch und Technik im Fahrzeug
in der Perspektive der Systemtheorie

Moderationspapier zur AG 3 der MMK 2006 von
Rolf Todesco


Vorspann Technologie

Ich unterscheide ein Thema und die Art, wie wir das Thema behandeln. Mir liegt nicht so viel an den Themen, mir liegt mehr an der Kommunikation (also am K von MMK). Ich reflektiere deshalb meinen Zugriff auf das Thema: Ich bezeichne ihn als Systemtheorie 2. Ordnung. Mir ist wichtig, wie wir über die Sache sprechen, also was wir explizieren und was wir implizieren. Mich interessieren die Kategorien und die Theorien, die uns - in diesem Falle - dazu führen, wie wir uns eine sinnvolle Technik und allenfalls einen sinnvollen Menschen in dieser Technik vorstellen.

G. Rohpohl hat in seiner Systemtheorie der Technik schon vor langer Zeit (in den 70er-Jahren des letzten Jahrhunderts ;-) darauf hingewiesen, dass die Technologie immer die Maschine und den Menschen (das sind die beiden M von MMK) beobachten muss. Er hat es allerdings mit anderen Kategorien getan, als ich es vorschlage, weil er auch Technologie ganz anders verwendet als ich.

Technologie heisst - etymologisch - die Lehre (Logik, Wissen) über die Technik. Der Begriff stammt von Beckmann (1777) und bezeichnet zunächst die Bemühung Wissen in den Dienst der Technik zu stellen. Mit der Zeit nahm die Technologie die Form einer Systemtheorie an, und jetzt ist die Technologie als Systemtheorie unser (begriffliches) Wissen schlechthin. Früher - und anachronistisch natürlich noch heute - diente die Technologie der Entwicklung von Artefakten, wie etwa thermostatengeregelten Heizungen oder ABS, ... Aber heute betreiben wir die Entwicklung der Artefakte und mithin der Technologie und der Systemtheorie, um unser Begreifen zu entwickeln. Wenn der Sinn der Technik wäre, den materiellen Wohlstand der Menschen zu verbessern, hätte die Technik bisher durchwegs versagt: Absolut und relativ verhungern immer mehr Menschen auf der Erde. Und wenn es nur darum ginge, ein besseres Auto zu konstruieren, wäre unser Aufwand absurd. Wir entwickeln unser Denken und die Artefakte sind nur Ausdruck davon.

Ich will einen frühen Vertreter dieser These (und der Systemtheorie) zitieren:

Shannon, Claude E.: Ein bescheidener Versuch, um amerikanischen Autofahrern in England zu helfen

„Ein amerikanischer Autofahrer sieht sich in England einer wilden und gefährlichen Welt gegenüber. Der Fahrer sitzt im Auto rechts und man verlangt von ihm, auf der linken Straßenseite zu fahren – so als sei das Fahren in England eine linkshändige Version des amerikanischen Systems. Aus persönlicher Erfahrung kann ich den Ernst des Problems bestätigen... Tief in unseren Fahrgewohnheiten verwurzelt, erschien uns die Welt völlig verrückt. Autos, Fahrräder und Fußgänger kamen wie aus dem Nichts geschossen, während wir immer in die falsche Richtung schauten. Unter den Flüchen der Männer und dem Geschrei und hysterischen Gelächter der Frauen schlingerte der Wagen von einem Fluchtweg zum nächsten. Die Mitfahrer waren unfreiwilligen Schreckreaktionen ausgeliefert... Selbst der Blinker und der Scheibenwischer waren gegenüber dem amerikanischen System vertauscht, so dass wir uns immer wieder dabei ertappten, mit dem Scheibenwischer das Abbiegen anzuzeigen – schnell für rechts, langsam für links. Die englischen Straßen und die hohe Geschwindigkeit der englischen Fahrer trugen nicht gerade dazu bei, die Lage zu erleichtern. Genauso wenig verstärkte die Vorliebe der Engländer, unmittelbar am Straßenrand Mauern zu bauen, das Gefühl der Sicherheit. Dieser Aufsatz wird eine neuartige Lösung für das Problem entwickeln, die im übrigen auch für Engländer taugt, die in Amerika Auto fahren“ (Shannon 2000: 313).

Das vorgeschlagene "Konzept hört sich zweifellos ebenso grandios wie völlig unpraktikabel an – ein unsinniger Mathematikertraum... eine bloß theoretische Möglichkeit. Aber wir werden zeigen, dass es sich mit heutiger Technologie realisieren lässt. Wie das? Kurz gesagt: mit Spiegeln... Allgemein gesagt besteht unser Plan darin, den amerikanischen Fahrer mit einem Spiegelsystem zu umgeben, das seine Ansicht von England in einer ungeraden Anzahl von Reflexionen spiegelt. So sieht er die Welt um sich herum nicht so, wie sie ist, sondern als eine um 180° vierdimensional gewendete“.

„Man muss nicht nur den sensorischen Input, sondern auch den motorischen Output umkehren. Es mag ein kleiner Schock sein, in einen Wagen einzusteigen, [der mit dem vierdimensionalen Wender ausgerüstet ist], aber nach einem Augenblick wird sich unser Amerikaner bequem und heimisch fühlen. Alles ist so wie es ‚sich gehört’. Er startet also den Motor und fährt die Straße entlang. Die Straße biegt jetzt eigentlich scharf nach rechts ab. In seiner Wahrnehmung biegt sie selbstverständlich scharf nach links, also schlägt er nach links ein und fährt geradewegs gegen die Steinmauer, wo er sofort stirbt“. Also muss der Wagen mit einem Lenkrad ausgestattet werden, das die Richtung dreht: nach links einschlagen, nach rechts fahren. Ein Problem haben die, dienach Wegweisern fahren, denn die Straßenschilder sind die bei ungerader Reflexionszahl stets nur spiegelverkehrt sichtbar. Aber auch hier ist die Lösung „lächerlich simpel“. Es gibt einen einzigen Spiegel im Auto, der nur eine doppelte Reflexion erzeugt, den Rückspiegel; „folglich muss der Fahrer nur seinen Wagen rückwärts an das Straßenschild heranfahren, um es im Rückspiegel zu lesen!“

  

Abb. nach: Claude E. Shannon: gerade Linie: „der wirkliche Wagen ebenso wie die wirkliche englische Straße“, gestrichelte Linie: wahrgenommene Situation)

Ein „schwerwiegendes Problem ist das der Zentrifugalkraft. Wenn unser Fahrer - verspiegelt - nach rechts fährt, wird er sich zu seiner Überraschung mehr zur Innenseite der Kurve als nach außen gedrückt fühlen, ein höchst unangenehmer und verwirrender Eindruck. Wie bei Columbus und dem Ei ist die Antwort ganz einfach, sobald man sie kennt. Wenn wir eine Masse in eine Flüssigkeit höherer Dichte eintauchen, verhält sie sich, als ob sie ein negatives Gewicht hätte. Die Flüssigkeit presst das Objekt in Richtung der Beschleunigung.“ (320) Also muss der merikaner-in-England in seinem Wagen in einen „Taucheranzug“ gesteckt und dann in einen „Behälter“ gesetzt werden, der mit einer solchen Flüssigkeit gefüllt ist: Natürlich würde er dazu neigen, nach oben zu steigen, aber der Gurt hält ihn unten. Ein Schnorchel sorgt für seine Atmung, und so fühlt er sich alles in allem, inmitten der diversen Gerätschaften, ganz wie zu Hause in Amerika!“ (Anmerkung: Diese Auszüge von Shannons Text habe ich in nicht zitierbarer Form von Lehmann 2005 übernommen).

  

Beobachtungen

Man könnte meinen, dass sich der Mathematiker C. Shannon etwas lustig macht über Ingenieure, die ein Fahrzeug bauen, dass ganz unsinnige Anforderungen erfüllt. Und man könnte meinen, dass er sich auch über die Benutzer des Fahrzeuges etwas lustig macht, weil sie ziemlich viel in Kaufen nehmen, wenn sie das teure Fahrzeug, das so viel Komfort bietet, kaufen. So erscheint die Geschichte als Parodie.

Wenn man - beispielsweise als Fachidiot - nicht merkt, dass die Geschichte ein Parodie ist, kann man daraus einiges lernen, was nicht parodisch gemeint ist: Zumindest nämlich, dass die technische Lösung eines Problems viel mehr Probleme erzeugt, als sie löst. Die elegante Spiegelung verdreht leider die Wegweiser. Dann kann man lernen, was die technische Intelligenz in solchen Fällen vorschlagen könnte, aber nicht sollte: Nämlich ganz simple, "fahren Sie rückwärts an den Wegweiser heran und lesen Sie ihn im Rückspiegel". Sie solte solche Lösungen nicht vorschlagen, nicht weil nicht so elegant sind,sondern weil das neue Problem so gerade nicht technisch gesehen wird und deshalb keine weitere Maschine produziert. Dann kann man auch lernen, dass es für unglaublich schwierige Probleme ganz einfache Lösungen wie das Ei des Kolumbus, gibt. Der Taucheranzug gegen Trägheit und Schwerkraft ist ja ohnehin etwas, an was wir uns gewöhnen sollten, weil demnächst jede Millionärin auch ohne Verspiegelungen, wie sie bei Amstrongs Mond-Spaziergang in Hollywood verwendet wurden, auf den Mond fliegen kann.

Technik-historisches Forschungsprogramm: Aus Fehler lernen

Man könnte die Parabel als Anleitung für ein Forschungsprogramm lesen und untersuchen, wo in der Technikgeschichte Lösungen produktive Folgeprobleme verursachten. Ein direkt ableitbares Beispiel wäre etwa, dass beim ABS das Bremspedal so tun muss, als ob man damit wirklich bremse und nicht nur einen Regelkreis steure. Das Pedal muss also Widerstand vortäuschen, sonst wäre den Autofahrer wohl nicht wohl. Vielleicht würde man dabei einen bestimmten Problemtyp - also eine typische Problem-Wahrnehmung - erkennen, die diese Problemverschiebung regelmässig reproduziert.

Beobachtungen 2. Ordnung

Als Parodie erscheint die Geschichte aber nur, wenn man Vorstellungen von Technik hat, die sich durch diese Geschichte parodieren lassen. Also kann man sich fragen, welche Vorstellungen hier überspitzt werden. Dabei geht es nicht mehr um Artefakte und deren Funktion, sondern um Beobachtungen, in welchen diese Artefakte vorkommen. Eine Art konstitutive Vorstellung zur Technik ist, dass es Probleme gebe, die technisch lösbar seien. R. Keil-Slawik (2001) bringt das im Kontext des e-learnings auf den Punkt: "Technik kann nur technische Probleme lösen". Das könnte ja insbesondere auch auf das Autofahren und auf den Verkehr insgesamt zutreffen. Wie einfach wäre es doch, wenn England auf rechts schalten würde.

Die Erfinder der Technik - jetzt meine ich die spezifische Technik der Automatisierung, die kybernetisch beschrieben wird - haben die Aufgabe der Technik noch ziemlich anders gesehen. Heron von Alexadria, der Vater aller Automaten, löste mit seiner Technik keine Probleme. Techne hiess für ihn die Natur auszutricksen, ihr zu zeigen, was man im Sinne der Mimesis auch kann. Und auch die ersten Europäer, die Heron rekonstruierten, sahen zuerst das Spiel, das Erkenntnis schaffen sollte. Wir verstehen nur, was wir konstruieren. Die Technik stellte epistemologische Probleme, gelöst wurden sie von Konstrukteuren. Die Technik lieferte das Material, mit welchem man das Konstruktionsproblem, das die Radikalen Konstruktivisten seit J. Piaget beschäftigt, formulieren konnte: Weil es Technik gibt, kann man sich fragen, wie ein Auto für Amerikaner in England konstruiert sein müsste.

  

Die Ente, die in der »Grande Encyclopédie«, Paris 1885, als diejenige von Vaucanson aufgeführt, mit etwas ungenauen Angaben über den Mechanismus.

Ausblick (und Vorschlag für die Tagung)

Natürlich kann man den Kybernetiker C. Shannon auch durch kybernetische Brille beobachten. Dann interessiert man sich weniger für sein Auto, als für die Ueberlegungen, die hinter dem Auto stehen. Seine Arbeit heisst - was ich bisher unterschlage habe - "Der vierdimensionale Dreh", weil er seine Spiegelungen als Inversion, also als Umstülpung auffasst; als Inversion der Problemlösung, in welcher kein vorangestelltes Problem gelöst wird, sondern ein Problem gesucht wird, das zur gegebenen Lösung passt. Es scheint augenfällig, dass die Fahrzeugindustrie ganz viele Technologien hat und noch nicht recht weiss wozu. Ich will diese Ueberlegungen von C. Shannon hier nicht ausführen, sondern nur auf die Haltung verweisen. Er konstruierte ein Auto als Inbegriff eines kybernetischen Automaten, ohne im geringsten an Autos und an Amerikanern im englischen Verkehr interessiert zu sein. Wenn wir uns überlegen, wie wir welche Fahrzeuge konstruieren, können wir uns immer auch überlegen, welche Probleme wir damit lösen. Autos sind sicher nicht unser Problem, oder?

Literatur

  • Keil-Slavik, R. (2001): Computer und Lernen: Von der Vision zum Alltag zur Vision, http://www.uni-ulm.de/uni/fak/zawiw/content/akademie/HA2001/vortraege.html
  • Lehmann,Maren (2005): Ratten im Labyrinth oder: Lernen mit Theseusn, Design Journal vol. 8/2, 2005 (Special Issue: EAD Bremen Conference)
  • Shannon, Claude E. (2000): Der vierdimensionale Dreh, oder: Ein bescheidener Versuch, um amerikanischen Autofahrern in England zu helfen. In: ders., Ein/Aus: Ausgewählte Schriften zur Kommunikations- und Nachrichtentheorie, hrsg. von F. Kittler u.a., Berlin, 2000, S. 311-320.


    PS

    Ich habe unter http://www.hyperkommunikation.ch/seminare/mmk2006/index.htm eine Site für die AG geöffnet. Wenn jemand da draufschreiben will, kann er von mir die FTP-Angaben haben. Ihr könnt mir Eure Beiträge auch mailen, dann stelle ich sie auf die Seite (falls Ihr nichts dagegen habt). Ich finde das Netz eine praktische Geschichte für MMK.