1 Prolog: Achilles und die Schildkröte
2 Paradoxie als Erzählung
3 Die Aufhebung der Paradoxie
4 Die Rekonstruktion der Paradoxie
5 Die Perspektive der Erzählung
6 Die uneigentliche Paradoxie
7 Die Antinomie
8 Die Form der Paradoxie
Achilles ist der schnellste Läufer im heroischen Griechenland. Zenon, der ebenfalls legendäre Philosoph, legt ihm folgendes dar:
"Hör mal, ich habs mir genau überlegt. Es ist egal, wie schnell Du laufen kannst, Du kannst kein Rennen gegen meine Schildkröte gewinnen, wenn Du ihr nur einige Meter Vorsprung gewährst."
"Mach Dich nicht lächerlich ..."
"Ich wills Dir erklären. Bis Du dort bist, wo sie mit ihrem Vorsprung startet, ist sie bereits etwas weiter, weil sie ja auch nicht still steht in der Zeit, die Du brauchst, um dorthin zu kommen. Bis Du wiederum dort bist, wo sie zuvor war, ist sie wieder etwas weiter ... Merkst Du, dass Du sie gar nie einholen kannst?"
Achilles, der Schnellste, der noch nie ein Rennen verloren hatte, liess sich nur leicht verunsichern. Weil aber Zenon immerhin auch in seinen Augen eine geistige Autorität war, machte er von Zeit zu Zeit ein kleines Rennen gegen seine eigene Schildkröte - nur um sicher zu sein.
Zenon dagegen, der genau wusste, wie die Rennen von Achilles gegen dessen Schildkröte ausgingen, hintersinnte sich fast - wie übrigens nach ihm viele weitere Philosophen. Er hatte sich selbst ein Problem gegeben, das er und viele seiner ihm folgenden Philosophiekollegen nicht zur eigenen Zufriedenheit lösen konnten - während praktische Menschen wie Achilles, das Problem aufgrund ihrer robusten Erfahrungen aus täglichen Rennen gar nicht recht nachvollziehen konnten. Einige der Philosophen - nicht die geringsten - legten recht schlaue Vorschläge vor:
Zuerst Aristoteles, dem wir die Überlieferung von Zenons Geschichte überhaupt verdanken. Aristoteles argumentierte, man könne eine Strecke nur potentiell beliebig häufig teilen, in Wirklichkeit dagegen sei dies nicht möglich, weshalb Achilles über kurz oder lang aufschliessen müsse. Achilles hörte wohl, was Aristoteles erzählte - weil er ja wie jener einer griechischen Legende entstammt -, er liess sich aber von seinen kleinen Rennen gegen seine Schildkröte nicht abhalten, weil er als normaler Mensch mit Aristoteles‘ Potentialität nicht viel anfangen konnte, obwohl sie seine sinnlichen Erfahrungen „philosophisch“ irgendwie bestätigt hätten.
Etwas später als Aristoteles behauptete G. Leibniz für Mathematiker offenbar glaubhaft, die Summe der Folge 1 / 2n von 1 bis unendlich, also 1/2 + 1/4 + 1/8 + .. sei gleich 1. Jeder aber, der wie Zenon nachrechnet statt sich auf waghalsige mathematische Theorien zu verlassen, wird nicht und niemals finden, dass das stimmt - es sei denn, er würde unendlich lange rechnen, wozu er ziemlich lange leben müsste. Und ohnehin würde so nur das Aufholen, nicht aber das Überholen der Schildkröte durch Achilles erklärt.[1]
Deshalb haben noch später unter vielen andern auch Kant, Bergson und Feyerabend magische Vorschläge zur Lösung des Problems gemacht. Der eigentlich unsterbliche Achilles hatte inzwischen schon längstens die Gewissheit, die nur Tote haben, so dass er seine Rennen nicht mehr austragen musste. Würde er aber noch leben, hätte er sich sicher weder von Kant noch von Bergson oder irgendeinem andern Philosophen von seinen heimlichen Rennen gegen seine Schildkröte abhalten lassen.
B. Russell, auch kein Geringer unter den Philosophen, sagte, dass er zwanzig Jahre seines Lebens mit diesem Unsinn verschwendet habe. Dieser Unsinn hat einen Namen: Ich bezeichne diesen Unsinn als Paradoxie - und Paradoxien als spezifischen Un-Sinn, der rekonstruiert werden kann.[2]
Wenn ich den Ausdruck Paradoxie quasi-etymologisch lese, lese ich „para Doxa“, also „gegen die Lehre“. Ich akzentuiere hier nicht die Logik oder Adäquatheit der Lehre, sondern dass die Para-Lehre wie die Lehre gelehrt, also erzählt wird.
Im Zaubervarieté werde ich auch mit Phänomenen konfrontiert, die meiner Vernunft widersprechen. Aber der Zauberer erzählt nicht, dass die Taube aus einem zuvor leeren Zylinder auffliegt, er zeigt es. Und ich erlebe dabei keine Paradoxie, sondern eine Tatsache. Ich kann der Tatsache der aus dem Nichts erscheinenden Taube damit begegnen, dass ich Zauberei für möglich halte, oder dass ich einen Trick unterstelle. Aber paradox wird die Sache nie. Paradoxien kann ich nicht sehen oder erleben, sondern wie jede Lehre nur erzählt bekommen.
Als Paradoxie erkenne ich ein widersprüchliches Verhältnis zwischen zwei Lehren. Die Paradoxie besteht darin, dass ich zwei Geschichten habe, die sich gegenseitig ausschliessen, mir aber beide als richtig erscheinen. Damit ich eine Paradoxie wahrnehmen kann, muss ich von einer Geschichte gleichzeitig merken, dass sie „falsch“ und doch „richtig“ ist. Sie muss der Doxa widersprechen, aber auf eine Art richtig sein, der ich mich nicht entziehen kann. Zenons Geschichte kann ich nicht widersprechen, ich merke nur, dass sie der Doxa widerspricht, der ich auch nicht widersprechen kann.
Als Richter etwa kann ich erleben, dass der Angeklagte und der Ankläger zwei ganz unverträgliche Geschichten zu demselben Ereignis erzählen. Wenn beide Geschichten hoch plausibel und durch Zeugen untermauert sind, weiss ich trotzdem, dass die eine nicht stimmt, auch wenn ich nicht entscheiden kann, welche. Bei der Paradoxie weiss ich dagegen, dass beide Geschichten stimmen. Das ist das, was die Paradoxie ausmacht.
Bei Paradoxien kann ich den Widerspruch auch nicht dadurch aufheben, dass ich die Lehren mit dem vergleiche, was gelehrt wird. Genau das sieht Achilles nicht, wenn er seine Rennen gegen seine Schildkröte macht. Denn dabei kann er sehen und erleben, dass er seine Schildkröte überholt, aber die Paradoxie kann er dadurch nicht auflösen, denn sie widerspricht nicht seiner Erfahrung, und nicht dem, was er sehen kann, sondern einer Lehre, die ihm auch und trotzdem - oder quasi selbstverständlich - richtig zu sein scheint.
Zenon erzählt nur die Para-Doxa, wonach Achilles die Schildkröte nicht überholen kann. Die andere Geschichte, die Doxa, gegen welche die Para-Doxa gerichtet ist, wird nicht erzählt. Als Doxa bezeichne ich hier also eine Geschichte, die nicht erzählt wird, sondern als Gegengeschichte einer Paradoxie erscheint.[3] Achilles wird von niemandem erzählt bekommen haben, dass er seine Schildkröte überholen könne, und ich kann mich auch nicht erinnern, dass mir je erzählt wurde, dass Achilles die Schildkröte überholen kann und es auch tut, wenn sie ein Rennen bestreiten. Ich höre die Doxa nur immer dann, wenn ich die Para-Doxa erzähle.
Diese Doxa entsteht als Differenz zur Geschichte, die Zeno erzählt. Ein Sinn der Paradoxie liegt darin, auch die Doxa als Erzählung sichtbar zu machen. Indem Zenon erzählt, was er erzählt, macht er die Doxa sichtbar - auch wenn robuste Denker wie Achilles die Doxa trotzdem nicht als Erzählung sehen können.
Wenn ich die Doxa sehen will, muss ich Zeno genau zuhören. Ich muss die Differenz erkennen, zwischen dem, was er erzählt und dem, was er als Doxa impliziert. Dazu muss ich die Differenz erkennen zwischen dem, was er erzählt und dem, was er in seiner Geschichte nicht erzählt. Zenon erzählt von einem Rennen zwischen Achilles und einer Schildkröte, aber er erzählt nicht, dass er dabei auch über seine Beobachtungen spricht.
In meiner Wahrnehmung der Differenz gehört Zenon mit zur Geschichte, er ist der beobachtende Erzähler, ohne den es die Geschichte gar nicht geben würde. Also ist meine Geschichte eine Geschichte, in welcher ich Zenon und das Rennen zwischen Achilles und der Schildkröte beobachte.
Ich nehme tautologischerweise an, dass ein Läufer mit einer gegeben Geschwindigkeit für ein kürzere Strecke weniger lange benötigt als für eine längere, für die halbe Strecke beispielsweise die halbe Zeit. Ich teile mit Zenon, dass sich die Schildkröte immer einen bestimmten Vorsprung verschafft, bis Achilles dort ist, wo sie war - obwohl Aristoteles das offenbar potentiell ganz anders sah.[4]
Nun beobachte ich den Gegenstand meiner Geschichte. Der Einfachheit halber nehme ich an, die Schildkröte sei halb so schnell wie Achilles und habe einen Vorsprung von 100 Metern bekommen. Das Rennen wird gestartet. Nach 10 Sekunden ist Achilles dort, wo die Schildkröte gestartet ist, die Schildkröte ist 50 Meter weiter. Zenon registriert die Tatsache und nickt zufrieden. Nach weiteren 5 Sekunden ist der unermüdliche Achilles dort, wo die Schildkröte nach 10 Sekunden war, also nochmals 50 Meter weiter. Die Schildkröte, auch nicht müde, hat 25 Meter Vorsprung erkämpft. Zenon registriert die Tatsache und nickt zufrieden, das Spiel läuft. Zenon hat schon genug gesehen, er verallgemeinert, was er beobachtet, indem er sagt, dass das Spiel endlos so weitergehe. Diese Verallgemeinerung teile ich logisch gezwungenermassen, weshalb mir Zenons Geschichte als zwingend einleuchtet.
Wenn ich den Beobachter Zenon beobachte, registriere ich, dass er seine erste Messung nach 10 Sekunden vornimmt, seine zweite Messung nach 15 Sekunden. Ich habe damit auch schon genug gesehen und verallgemeinere, dass er sein Messintervall laufend halbiert. Für mich ist leicht zu sehen, was passiert, wenn Zenon seine Strategie beibehält. Nach einigen Messetappen dauert sein Messintervall noch einige Zehntelsekunden, später noch einige Tausendstelsekunden usw. bis die Sache langweilig wird. Die Strecken von Achilles und der Schildkröte werden im gleichen Ausmass wie Zenons Zeitintervalle kürzer, am Prinzip des Rennens ändert sich nichts: Achilles hat keine Chance – jedenfalls wenn Aristoteles mit seiner für mich nicht nachvollziehbaren These nicht recht behielte.[5]
Der von mir beobachtete Prozess läuft nicht in einer irgendwie relativistisch unverständlichen oder in einer „potentiellen“ Zeit, sondern in meiner ganz normalen alltäglichen Zeit, deren Intervalle ich gedanklich ebenso beliebig teilen kann wie jede Strecke. Zenon, der Beobachter des Rennens, hat beschlossen, die einzelnen Beobachtungsintervalle immer kürzer werden zu lassen - was ich ihm weder verwehren will noch kann. Er protokolliert genau das, was er dabei sieht, nämlich dass Achilles die Schildkröte auch nach unendlich vielen Beobachtungen nicht einholen wird.
Selbstverständlich brauche ich Zenon gar nicht, ich kann auch das Rennen selbst beobachten. Dabei kann ich mich selbst so verhalten wie Zenon, also die Beobachtungszeitintervalle jedes Mal halbieren. Ich kann aber - und das ist meine Entscheidung - auch ein anderes Bobachtungsverhalten wählen, in welchem ich die Beobachtungszeitintervalle konstant halte, was Zenon mir auch nicht verwehren kann. Logischerweise ist das, was ich in diesem Fall sehe, etwas anderes, weil ich ja ein anderes Beobachtungsverhalten wähle. In Abhängigkeit von meiner Wahl sehe ich entweder, was Zenon sieht, oder ich sehe, wie Achilles seine Schildkröte nach kurzer Zeit überholt. Nur etwas Paradoxes kann ich so nicht sehen.[6]
In der Erzählung, in welcher Achilles die mit etwas Vorsprung gestartete Schildkröte nie einholt, erkenne ich ein bestimmtes Beobachtungsverhalten, wenn ich Zenon entsprechend zuhöre. Zenon erzählt ganz genau und deutlich, was er macht, um zu seinem Befund zu gelangen. Wenn ich sein Beobachtungsverhalten übernehme, was ich als ver-Stehen, im Sinne von an seine Stelle stehen verstehe, messe ich die „Renndauer“ nicht mit einer Uhr, sondern als Anzahl Beobachtungen. Meine Beobachtungen finden dabei in meinem Zeitverständnis nacheinander statt, weshalb ich sagen kann, dass Zeit verstreicht. Und wenn ich dieses Verstreichen der Zeit mit der Anzahl Beobachtungen verbinde, kann ich auch sagen, dass es gleichgültig ist, wie „lange“ ich beobachte: Achilles wird die Schildkröte nie einholen, gleichgültig, wie lange ich sie beobachte.
Die Paradoxie entsteht in mir, wenn ich verschiedene Beobachtungen nicht als verschieden beobachte. Zeno spricht von einer Dauer, die ich auf eine ganz bestimmte Weise operationalisieren muss. Wenn ich das Wort „Dauer“ ganz anders verwende und das nicht merke, kann ich Zenon nicht verstehen. Ich kann aufgrund eines durch Wortbedeutungen fixierten Denkens nicht hören, was er sagt, und mein eigenes Unverständnis kann mir dann als Paradoxie begegnen.
Wenn ich statt Worte zu hören, höre, was mit den Worten im konkreten Fall gemeint ist, wenn ich die Worte also als situative Beschreibungen realisiere, entscheide ich, was ich höre, weil „nur ich und ich nur“ entscheiden kann, was ich mit diesen Worten meine oder beschreibe. Wenn ich höre, dass Achilles die Schildkröte nicht oder nie einholen kann, kann ich mich fragen, was diese Aussage bedeutet oder was sie mir im gegebenen Kontext sagt. Ich weiss, wie Rennen zwischen Achilles und der Schildkröte ausgehen. Auf dieses Wissen kann ich die Aussage nicht sinnvoll, sondern eben nur als unsinnig beziehen. Aber ich kann die Aussage sinnvoll als Beschreibung eines für mich nachvollziehbaren Beobachtungsverhaltens verstehen.
Auf einer weiteren Deutungsstufe mag mir dann scheinen, dass Zenon diese scheinbare Paradoxie als Provokation in die Welt gesetzt hat, dass er mit seinem Sprachspiel den Achilles - und mich - ärgern wollte. Und etwas nach(her)denkend sehe ich, dass er Achilles und mich nicht erreichte, weil wir robust oder verständig sind. Dagegen provozierte er ziemlich viele Philosophen, die er vielleicht sogar mehr im Visier hatte als Achilles und mich.
Mich interessiert hier die Konstruktion der paradoxen Provokation.[7] Was erzählt Zenon in welcher Weise, so dass er eine paradoxe Deutung provozieren kann. Ich kehre die Frage um. Was erzählt Zenon nicht? Er erzählt nicht, dass er erzählt, und er erzählt nicht, wie er beobachtet hat, was er erzählt. Natürlich ist sinnenklar, dass er erzählt, und ich kann durch seine Erzählung auch erkennen, was er wie beobachtet hat. Ich kann seine Aussagen aber nur als Paradoxie verstehen, wenn ich übersehe, was so sinnenklar ist, dass er es nicht explizit erwähnen muss.
Die Irritation der Paradoxie zwingt mich gewissermassen die Augen zu öffnen. Das gleiche macht die Vorführung eines Zauberers. Es gibt einen Spielkartenzauber, bei welchem ich meinem Zuschauer sechs Karten wie Herz-Sieben und Karo-Acht zeige und ihn bitte, sich eine der Karten sehr, sehr gut zu merken und sich einzuprägen. Nachher zeige ich meinem Zuschauer fünf Karten und sage ihm, dass die sechste, die er sich eingeprägt hat, fehlt - was fast immer funktioniert. Der Zauber beruht darauf, dass ich ihm fünf andere Karten, beispielsweise Herz-Acht und Karo-Sieben zeige, als er zuvor gesehen hat. Das merkt der paradoxierte Zuschauer nicht, weil er sich auf die eine Karte konzentriert hat, die er jetzt nicht sehen kann. Er sieht also nicht, dass er alle sechs Karten von vorher nicht sieht. Der Zauber beruht darauf, dass das Sichtbare nicht gesehen wird. Und die Paradoxie beruht darauf, dass der Erzähler nicht als Erzähler wahrgenommen wird.
Der Ausdruck „Doxa“ steht hier nicht vor allem für eine Lehre, die nicht erzählt wird, sondern mehr für die Differenz zwischen Geschichten und Geschichte. Geschichten, also Märchen, Sagen und Romane sind ans Erzählen gebunden, die Geschichte dagegen ist gemeint als etwas, was jenseits von Erzählungen existiert.[8] Märchen und Romane können nicht richtig oder falsch sein, sie können keiner Doxa widersprechen, weil sie Erzählungen sind. Die Lehre als Doxa dagegen behauptet von sich, richtig zu sein. In gewisser Weise widerspiegle ich diese Differenz dadurch, dass ich bei Märchen nichts glaube und bei Geschichte immer glaube, dass sie so nicht stimmt.
Noch deutlicher erlebe ich diese Differenz, wenn die Doxa naturwissenschaftlich, also objektiv schlechthin gemeint ist. Ich sehe fast jeden Tag, wie die Sonne auf- und untergeht, sich also um meine Lebenswelt dreht. Aber die Doxa sagt mir, ich würde mich um die Sonne drehen. Ich glaube, ich habe diese Doxa durch einen Lehrer in der Schule erfahren. Aber ich habe die Doxa nicht als seine Sicht erkannt, es muss meinem Lehrer gelungen sein, sich selbst aus dem Spiel zu halten. Und soweit ich mich erinnern kann, hat er diese Geschichte auch nicht als Stellvertreter eines anderen Geschichtenerzählers erzählt, sondern eben als Doxa, die ich mangels Paradoxie nicht erkannt habe, obwohl meine Alltagserfahrung mit der Sonne eine ganz andere war und immer noch ist. Wenn ich wie etwa Galilei oder Kopernikus sage, dass die Erde um die Sonne kreist und sich um die eigene Achse dreht, sage ich das von einem bestimmten Standpunkt aus, den ich wie mein Lehrer nicht mitteile, weil er mir selbstverständlich ist, obwohl ich noch nie dort gestanden bin. Ich müsste ja ziemlich weit wegfahren, um zu sehen, dass die Erde um die Sonne kreist.
Ich will dazu eine Geschichte erzählen, von welcher mich nicht interessiert, ob sie wahr ist. Im aufgeklärten Mittelalter wurden hypothetische Konstruktionen wie etwa jene von Kopernikus, wonach die Erde um die Sonne kreist, als System bezeichnet. System nannte man eine ausgedachte Erklärung, die auf Hypothesen, also auf angenommenen Unterstellungen beruhte. Im Streit über das heliozentrische Planetensystem sagte der Kardinal Bellarmino sagte zu G. Galilei: "Sei vernünftig: Bezeichne deine Ideen als Hypothesen, sonst sind sie Ketzerei". Man kann den Rat des Kardinals so interpretieren, wie es offenbar G. Galilei auch getan hat: Hätte G. Galilei seine Ideen als Hypothesen bezeichnet, hätte er zugegeben, dass er nicht weiss und nicht wissen kann, ob er recht hat. Sein ganzes „System“ wäre nur eine Denkmöglichkeit gewesen - was es in meinen Augen tatsächlich ist. N. Kopernikus und G. Galilei benutzten das heliozentrische Planetensystem als Erklärung für bestimmte Phänomene am Sternenhimmel, die sich natürlich - wie jedes Phänomen - auch anders erklären liessen. Der üblichen Geschichte zufolge meinte G. Galilei, die Wahrheit zu kennen, auch wenn er sich dafür nicht verbrennen lassen wollte. Er schwor nur ab, um später zu sagen: "Und sie dreht sich doch!" Die Schwierigkeiten, die G. Galilei mit der Kirchenobrigkeit hatte, werden in dieser Geschichte explizit damit begründet, dass er seine Sicht nicht als Doxa bezeichnen wollte.
Die Konstruktion der Paradoxie erkenne ich darin, dass eine Alternative zur Doxa ebenfalls nicht als Doxa deklariert wird. Die bewusste Konstruktion der Paradoxie setzt in diesem Sinn voraus, dass die Doxa und der Standpunkt des Erzählers gesehen werden, so dass der Standpunkt des Erzählers in der Gegengeschichte zum gleichen Thema variiert werden kann.
Wenn ich eine Darstellung unseres Sonnensystems anschaue, in welcher die Planeten auf Kreisbahnen um die Sonne angeordnet sind, sehe ich das Resultat einer Beobachtung. Wenn ich die Darstellung als Erzählung begreife, kann ich den Standpunkt der Beobachtung rekonstruieren. Von einem bestimmten Ort im Weltraum kann ich fotografieren oder mit eigenen Augen sehen, was ich als gezeichnete Sonnen-Planetenkonstellation vor mir habe, auch wenn ich gar nicht - oder um mit Aristoteles zu sprechen - nur potentiell ins Weltall hinaus fliegen kann. Ich kann erkennen, wo der Erzähler steht, so wie ich erkennen kann, wie Zenon das Rennen zwischen Achilles und der Schildkröte beobachtet. In beiden Fällen spielt keine Rolle, was in Wirklichkeit geht.
Kopernikus ist kaum je im Weltall gewesen. Er hat die heliozentrische Konstellation nicht gesehen, sondern als Fiktion geschaffen, indem er eine bestimmte Perspektive wählte. Wenn ich auf der Erde stehe, kann ich umgekehrt ohne Fiktion auch nicht sehen, dass die Sonne um die Erde kreist. Ich sehe sie nur am Tag und muss Objektpermanenz unterstellen, um sicher zu sein, dass sie nachts unter mir durch wandert, so dass ich am nächsten Tag dieselbe Sonne wieder aufgehen sehe.
Bestimmte Dinge sehe ich in Abhängigkeit eines Standpunktes. Die Rückseite eines Hauses kann ich sehen, wenn ich hinter das Haus gehe. Dabei verändere ich meine Art des Beobachtens nicht, sondern nur meinen Standpunkt. Es genügt, wenn ich den Standpunkt einnehme, um zu sehen, was mir in Form einer Zeichnung mitgeteilt wird, weil ich die Zeichnung ja auch sehen muss. Die Beobachtung selbst erscheint mir unbewusst quasi fotografisch, also so, wie wenn ich nichts beisteuern, sondern nur sehen würde, was da ist. Ich kann mir dieses Beobachten durch sogenannte optische Täuschungen problematisieren. Aber auch optische Täuschungen nehme ich nicht als paradox wahr, weil sie nicht erzählt werden (müssen).
Wenn ich sehen will, dass Achilles die Schildkröte im Rennen nicht ein- und überholen kann, muss ich eine bestimmte Beobachtungsart wählen. Diese Beobachtungsart kann ich nicht sehen, ich muss sie mir bewusst machen. Deshalb kann ich nicht einfach einen Standpunkt einnehmen, sondern ich muss mein Beobachtungsverhalten bewusst verändern. Die Paradoxie impliziert also keinen Standort, sondern ein Verhalten des erzählenden Beobachters, das dieser impliziert.
Ich gebe ein Beispiel, das üblicherweise durch den Namen des Erzählers gekennzeichnet wird. Diese Paradoxie besteht darin, dass ich zu einer Frage sich widersprechende Antworten geben kann, die alle richtig sind. Auch diese Paradoxie erscheint in verschiedenen Varianten. In einer Variante fragt J. Bertrand, wie gross die Wahrscheinlichkeit sei, dass eine Sehne, die „auf gut Glück“ in einem Kreis gezeichnet wird, länger ausfalle als die Seite des einbeschriebenen gleichseitigen Dreiecks. Der Ausdruck „auf gut Glück“ bedeutet, dass jede Sehne mit gleicher Wahrscheinlichkeit gezeichnet werden kann. Die Frage scheint klar - bis sich widersprechende Antworten als richtig erweisen. J. Bertrand zeigte, dass die Wahrscheinlichkeit sowohl 1/2, als auch 1/3 und 1/4 ist, in Abhängigkeit davon, wie "zufälliges Zeichnen einer Sehne“ verstanden wird.
Ich nehme also ein Blatt Papier und zeichne den Kreis und das Dreieck und dann auf gut Glück eine Sehne. Ich erkenne - natürlich mit Hilfe von J. Bertrand – dass ich die Sehnen zeichnen kann, indem ich jeden Punkt der Kreisfläche gleich wahrscheinlich als Sehnenmittelpunkt wähle, oder indem ich jeden Punkt auf der Kreislinie gleich wahrscheinlich als Sehnenendpunkt wähle, oder schliesslich, indem ich jede Richtung der Sehne als gleich wahrscheinlich wähle. Die Formulierung „auf gut Glück“ oder „zufällig“ umschreibt nicht, wie der Zeichner die Sehne zeichnet. Ich müsste also - wenn J. Bertrand es nicht für mich gemacht hätte - die verschiedenen Verhaltensweisen des Zeichners wie die verschiedene Beobachtungsweisen von Zenon aus der vermeintlichen Paradoxie erschliessen.
Die Bertrandparadoxie ist insofern eine uneigentliche Paradoxien als sie keine unausgesprochene Doxa verletzt, sondern einen Widerspruch in sich selbst produziert. Während Zenon nur die para Doxa erzählt hat, wonach Achilles die Schildkröte nicht einholen kann, hat J. Bertrand die Aufgabe, die verschiedenen widersprüchlichen Lösungen und die Aufklärung der Widersprüche erzählt. Die Bertrandparadoxie ist auch in dem Sinne keine eigentliche Paradoxie, als die Widersprüche auf eine Unvollständigkeit in der Formulierung der Aufgabe zurückgeführt werden kann.[9] J. Bertrand sagte, dass in seiner Aufgabenstellung der Ausdruck „Zufall“ nicht hinreichend spezifiziert sei. Ich dagegen beobachte unter dem Gesichtspunkt der Paradoxie drei verschiedene aber nicht als verschieden beschrieben Verhaltensweisen beim Zeichnen der Sehne, die im Wort „Zufall“ aufgehoben sind. Man kann natürlich auch bei der Zenonparadoxie eine nicht hinreichende Beschreibung erkennen, wo ich ein spezielles Beobachtungsverhalten konstatiere. Mich interessiert aber, was in der hinreichenden Beschreibung stehen müsste.
In einer anderen uneigentlichen Paradoxie, die auch auf J. Bertrand zurückgeht, werden drei Häftlinge zum Tode verurteilt, jedoch einer der drei per Losverfahren begnadigt. Damit ist die Chance zu überleben für jeden der Häftlinge 1/3. Wenn der Gefängniswärter jedoch nach der Auslosung den Namen eines Häftlings, der nicht begnadigt wird, nennt, bleiben nur noch zwei Kandidaten für die Begnadigung übrig und die Überlebenswahrscheinlichkeit scheint mithin 1/2, was als „paradox“ erscheint, weil die Nachricht die Chance der Häftlinge natürlich nicht verändert.
Der Erzähler vermengt hier zwei Geschichten, die ich einzeln erzählen kann. In der einen Geschichte wird ein Häftling unter dreien ausgelost. In dieser Geschichte ist die Chance für jeden Häftling 1/3 ganz unabhängig davon, was der Wärter wann wem sagt. In der anderen Geschichte wird zwei Häftlingen auf etwas umständliche Art und Weise gesagt, dass der eine von ihnen zur Begnadigung ausgelost wurde. In dieser Geschichte ist die Chance für jeden der Häftlinge 1/2. Wenn ich die beiden Geschichten einzeln erzähle, kann ich sie von verschiedenen Häftlingsgruppen in verschiedenen Gefängnissen erzählen und dadurch die Unabhängigkeit der beiden Geschichten erkennen.[10]
Der Erzähler der Gefangenenparadoxie erzählt nicht, dass er zwei voneinander unabhängige Geschichten erzählt. Er lenkt das Augenmerk auf die Häftlinge, die in beiden Geschichten als dieselben erscheinen, und damit weg von den Auslosungen, so wie beim oben beschriebenen Kartentrick das Augenmerk auf die abwesende Karte gelenkt wird.[11]
Ich beginne hier gleich mit meiner Geschichte statt zuerst die Barbier-Antinomie von B. Russell zu erzählen. B. Russel erzählte, dass ein Barbier alle Männer im Dorf rasiert, die sich nicht selbst rasieren. Und fragte dann: Wer rasiert den Barbier?
Im Hintergrund dieser Geschichte steht ein formales Problem einer Mengenlehre, in welcher „die Menge aller Mengen, die sich nicht selbst als Element enthalten“ als zulässige Aussage akzeptiert wird. Ich kann beispielsweise einen Bibliothekskatalog machen, in welchem alle Bibliothekskataloge aufgeführt werden. Wenn ich aber einen Katalog mache will, in dem alle Kataloge stehen, die sich selbst nicht enthalten, kann ich den Katalog selbst im Katalog weder aufnehmen noch nicht aufnehmen. Wenn ich ihn aufnehme, erhält er einen Verweis auf sich selbst und gehört also nicht in die Menge der Kataloge ohne Selbst-Verweis. Wenn ich ihn nicht eintrage, enthält er keinen Verweis auf sich selbst und gehört zur Menge der Kataloge ohne Selbst-Verweis, und müsste deshalb aufgenommen werden.
Mathematisch bezeichne ich diese „Geschichte“ nicht als Paradoxie sondern als Antinomie, weil ich innerhalb der Mathematik natürlich solche Geschichten nicht erzählen kann. Barbiere und Bibliotheken kommen in der Mathematik und in der Mengenlehre nicht vor. Meine Geschichte spielt nicht in der Mathematik, sondern handelt von einem Mathematiker, der sich in seinem richtigen Leben beim Barbier rasieren liess und einen grossen Teil seines Lebens den Paradoxien widmete, was er später bereute.
Der Mathematiker erzählt also etwas über seinen Barbier und etwas über eine Menge von Menschen, die im selben Dorf leben wie der Barbier. Ich erkenne zwei Geschichten, die der Mathematiker vermengt und die ich auseinanderhalten muss, wenn ich sie verstehen will. In der einen Geschichte erzählt er, dass es Menschen gibt, die sich nicht selbst rasieren. Der Barbier gehört nicht zu dieser Gruppe, wenn er sich selbst rasiert und er gehört zu dieser Gruppe, wenn er das nicht tut. Ich finde diese Geschichte für sich alleine etwas eigenartig, aber ich kann sie gut verstehen.
In der anderen Geschichte erzählt er, dass man sich vom Barbier rasieren lassen kann, und dass eine Gruppe von Menschen davon Gebrauch macht. Diese zunächst auch wenig überraschende Geschichte will ich aber genauer anschauen und mir bewusst machen, wie ich sie verstehe, damit ich für andere Interpretationen offen bleibe. Die Menschen in dieser Geschichte rasieren sich nicht selbst, sondern gehen zum Barbier in dessen Geschäftslokal oder sie lassen den Barbier zu sich nach Hause kommen. Sie setzen sich vor den Barbier und werden von ihm rasiert. Der Barbier kann das weder auf die eine noch auf die andere tun, weil er der einzige Barbier im Dorf ist. Er kann sich nicht vom Barbier rasieren lassen, weder indem er dessen Geschäft aufsucht noch indem er sich zuhause besuchen lässt.
Der Mathematiker vermengt die beiden Geschichten, indem er den Ausdruck „Barbier“ statt für eine Berufsbezeichnung ad hominem also für einen Menschen verwendet. Diese sprachliche Verkürzung, in welcher ich einen Mensch, der als Barbier arbeitet als Barbier bezeichne, macht nur in speziellen Fällen Probleme und wird deshalb so oft verwendet, dass sie gar nicht als Verkürzung erscheint.[12]
Ich beobachte also in meiner Geschichte einen Beobachter, der beim Erzählen seiner Geschichte eine sprachliche Abkürzung verwendet, die nicht wahrgenommen wird, wenn stattdessen eine Paradoxie wahrgenommen wird. Der Mechanismus, den B. Russell damit verwendet, ist ein anderer als jener von Zenon, aber er ist auch an das Erzählen gebunden. Und deshalb kann ich auch in diesem Fall erläutern, was der Erzähler beobachtet, also welche Unterscheidungen er macht, und was er wie benennt.[13]
Natürlich kann man die Geschichte, die B. Russell erzählt, auch ganz anders verstehen. Mir geht es aber nicht darum, die Geschichte zu verstehen, sondern darum zu verstehen, wie die Paradoxie erklärt werden kann. Dabei verwende ich eine Theorie, die ich anhand der Zenon-Paradoxie entwickelt und an die Barbierparadoxie herangetragen habe. Eigentlich lasse ich mich dabei von B. Russells Auffassung anleiten, indem ich seine Typentheorie auf einen Beobachter oder Erzähler zurückführe.[14]
Als eigentlichste Paradoxie kann eine Reduktion der Geschichte von Epimenides gesehen werden, die ich Eubulides zurechne,[15] und lautet: Ich lüge.
Ich erzähle zunächst wieder eine Geschichte. Eubulides war ein griechischer Sklavenhalter, der einen kretischen Sklaven namens Epimenides hatte, der der griechischen Sprache noch nicht mächtig war. Eubulides lehrte seinen Sklaven griechisch, indem er ihm Sätze vorsprach, die der Sklave nachsagen musste. Um sich über seinen Sklaven lustig zu machen, musste dieser sagen: Alle Kreter lügen. Epimenides hatte kein Problem damit, er wusste ja nicht, was er sagte. Eubulides aber erschrak, weil er plötzlich erkannte, dass sein Witz nicht gelungen war. Wenn ein Kreter sagen würde, dass alle Kreter lügen, dann bliebe für ihn unentscheidbar, ob die Kreter lügen.[16]
Eubulides machte mit seinem bösen Scherz sich selbst wahnsinnig und nach ihm noch viele Philosophen, die sich auch fast hintersinnten. In der noch nicht reduzierten Form der Kreterparadoxie wird wie in der Barbierparadoxie eine Geschichte über eine Person erzählt, die etwas tut. Zenon spricht über eine Person, die ein Rennen beobachtet, Eubulides spricht über Epimenides, der etwas Bestimmtes sagt.
In der Paradoxie erscheint die Beobachtung der Person, die die Paradoxie produziert, als Beobachtung des Erzählers der Paradoxie. In der radikalsten Reduktion der Lügnerparadoxie verschwindet nicht nur Epimenides, sondern auch Eubulides. Ich bin sozusagen auf mich selbst zurückgeworfen, wenn ich mir die Aussage „ich lüge“ aneigne. Eine andere Reduktion, die auch alle Personen ausblendet lautet: „Diese Aussage ist falsch“. Dabei muss ich mich aber doch wieder ins Spiel bringen, um die Aussage auf sich selbst zu beziehen, was die Aussage als solche ja nicht leisten kann.
Die Aussage „ich lüge“ referenziert ein erzählendes Subjekt, aber keine Erzählung. Wer sagt, dass er lügt, erzählt so wenig, wie wer sagt, dass er erzählt. In beiden Fällen müsste man fragen, wovon denn damit die Rede sei, oder auch entsprechend reduziert, würde ich antworten: „Das macht doch nichts“, wenn mir jemand sagen würde, dass er lüge.[17] Solange nichts erzählt wird, macht es keinen Unterschied, ob gelogen wird oder nicht.
Wenn ich selbst sagen würde, dass ich lüge, würde ich die Person ins Spiel bringen, die die Paradoxie produziert. Damit würde ich sozusagen eine Para-Paradoxie produzieren, weil Paradoxien diese Person ja gerade ausblenden. Wenn ich selbst sagen würde, dass ich lüge, würde ich aber wissen, was ich sage, das heisst, ich könnte die entsprechende Geschichte erzählen, die zeigen würde, unter welchen Bedingungen die Aussage Sinn ergäbe. Nur, ich habe noch nie gesagt, dass ich lüge – vielleicht weil ich weiss, dass es nichts machen würde, oder um ein geflügeltes Wort zu verwenden, weil ich weiss, dass der Unterschied, ob ich es sage oder nicht, keinen Unterschied macht.
[1] G. Leibniz wollte nicht das Problem von Zenon lösen, er hatte andere Probleme. Aber sein Postulat ist quasi die begriffslose Kehrseite von Zenons Problem, die ganz selten als Paradoxie zitiert wird – obwohl sie so paradox erscheint, wie jene von Zenon.
[2] B. Russel meinte seine Beschäftigung mit seiner eigenen Paradoxie, die ihn offenbar so konfus machte, wie Zenon es durch seine Erfindung geworden ist. Ich werde darauf zurückkommen.
[3] Der Ausdruck Doxa steht in diesem Sinne für Meinungen oder Ansichten, die ich unreflektiert für wahr halte, solange ich keine Para-Doxa höre.
[4] Die Version von Aristoteles macht mir bewusst, dass ich mich für eine bestimmte Sichtweise entscheide und dass ich im Prinzip auch anders könnte.
[5] Zur Zeit des Aristoteles wurde das Atom als Unteilbares erfunden. Aber davor und danach wurde auch immer an der Teilbarkeit von allem festgehalten. Dass in unserer Zeit Atome als Atome bezeichnet werden, ist auch irgendwie paradox.
[6] Darauf wurde in der Literatur schon beliebig oft hingewiesen. Man hat auch oft vorgeschlagen, dass diese Paradoxie genau deshalb im Unterschied zu eigentlichen Paradoxien gar keine Paradoxie sei. In meiner Perspektive geht es aber gerade nicht darum, ob es Paradoxien gibt, sondern darum unter welchen Bedingungen sie erscheinen.
[7] Als mentale Provokation bezeichnet E. de Bono eine bestimmte Kreativitätstechnik, bei welcher Sachverhalte so dargestellt werden, dass sie zunächst widersinnige Konsequenzen hervorzurufen, was natürlich insbesondere auf sogenannte Paradoxien zutrifft.
[8] Ich bezeichne die Doxa als Dogma, wenn sie explizit behauptet wird.
[9] Das wird übrigens auch sehr oft zur Lösung von eigentlichen Paradoxien wie etwa der KreterParadoxie von Eubulides vorgeschlagen, funktioniert bei Paradoxien aber nicht befriedigend, wenn die Formalisierung nicht gegeben ist.
[10] Diese Gefangenenparadoxie hat eine populäre Gegen-Variante im sogenannten Ziegen-Auto-Problem, bei welchem in einer TV-Show ein Mitspieler ein Auto gewinnen kann, wenn er errät hinter welcher von drei Türen das Auto steht. Hinter den beiden anderen Türen steht je eine Ziege. Der Spieler wählt eine der Türen, worauf der Show-Moderator eine der beiden anderen Türen öffnet hinter welcher eine Ziege steht, und den Spieler den Spieler auffordert zwischen den zwei verbleibenden Türen nochmals zu wählen. Das ist auch eine lustige Sach, die ist hier aber nicht Thema.
[11] Psychologisch gedeutet verwendet der Erzähler eine hoch emotionale Situation, nämlich die Todesstrafe um das Augenmerk zu steuern, während Zenon ebenso bewusst eine ganz entemotionalisierte Comic-Geschichte erzählt.
[12] Wer einmal lügt, wird in einer analogen Verkürzung Lügner genannt. Damit öffnet sich die Frage, ob ein Lügner immer lügt. Ich komme anhand der Lügner-Paradoxie noch einmal darauf zurück.
[13] B. Russell hatte seinerseits auf eine sprachliche Darstellung Bezug genommen. Die Arithmetik von G. Frege ist ein Mengenkalkül, in dem B. Russell die nach ihm benannte Antinomie entdeckte. Diesen Widerspruch löste B. Russell durch seine Typentheorie, die zur Grundlage seiner Principia Mathematica wurde, aber aus der Mathematik verschwunden ist, weil sie nicht zufriedenstellend formalisierbar war.
[14] Die Typentheorie von B. Russell lese ich als Vorschlag, die Antinomie zu vermeiden, indem bestimmte Aussagen durch Typisierungen verboten werden. Mir geht es aber darum, zu sehen, wie antinomische Aussagen konstruiert sind. Ich will und kann nichts verbieten – und B. Russells Verbote beziehen sich ja auch nur auf formale Sprachen.
[15] Ich sage „zurechnen“, weil ich von keinem dieser Namen, die für die Philosophie im alten Griechenland stehen, weiss woher sie kommen und wofür sie stehen. Die Quellenlage erscheint mir mehr als düster, und ich nehme an, dass das ganze „philosophische Griechenland der Antike“ eine Erfindung der Renaissance ist, die auf Kopien von Kopien von nie gefundenen Dokumenten beruht.
[16] Diese Geschichte habe ich ausführlicher erzählt in: Todesco, R: Lügen alle Kreter? Eine konstruktive Lösung der Kreter Paradoxie. In J. Schmidt u.a. (Hrsg.): Interne Repräsentationen, Suhrkamp 1996