Tabu
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Tabu .... .
Ein Tabu beruht auf einem stillschweigend praktizierten gesellschaftlichen Regelwerk, auf einer kulturell überformten Übereinkunft, die Verhalten auf elementare Weise gebietet oder verbietet.
Tabu ist eine nicht gemachte Beschreibung von nicht gemachtem Verhalten
zu einem Verhalten, das gemacht und besprochen werden will -- Sexualität
beredtes Schweigen zu diskurs
Wenn etwas nicht gegessen und benutzt werden darf, sagen sie, das ist tabu.“
Eine Definition des Tabu-Begriffs gab Sigmund Freud in seinem grundlegenden Werk Totem und Tabu:
„Die Tabuverbote entbehren jeder Begründung, sie sind unbekannter Herkunft; für uns unverständlich, erscheinen sie jenen selbstverständlich, die unter ihrer Herrschaft leben.“
In Deutschland ist das Verspeisen von Hunde- und Katzenfleisch weitgehend tabu, in der Volksrepublik China dagegen der Verzehr von Kaninchen und in Nordamerika wiederum der Genuss von Pferdefleisch. Unter ein in nahezu allen Gesellschaften umfassendes Tabu fällt auch der Kannibalismus oder auch das Inzesttabu.
Der Begriff „Tabu“ ist aus soziologischer und sozialpsychologischer Sicht von besonderer Bedeutung. Tabus schützen ein Thema vor dem Diskurs in einer Gruppe, Gemeinschaft oder Gesellschaft: „Darüber spricht man nicht!“. Dem Thema wird kein Platz, kein „Ort“ im öffentlichen „Raum“ des Bezugssystems gewährt, es kommt in der öffentlichen Meinung nicht vor.
Je mehr Mitglieder des Bezugssystems sich an dieser Form der Ausgrenzung eines Themas beteiligen, desto mehr „Macht“ hat das Tabu über den Einzelnen. Kollektive Verdrängungsmechanismen werden wirksam („Das darfst du noch nicht einmal denken!“). Diese starke emotionale Aufladung ist der Grund dafür, dass „die direkte Erwähnung eines Tabus eine Spannung im Zuhörer erzeugt“ (siehe oben).
oder Euphemismus).
Tabubruch gilt in der Regel als verabscheuungswürdig. Doch sind Tabus und gesetzliche Vorschriften nicht immer identisch. Einige Tabu-Handlungen oder tabuistische Gebräuche sind gesetzlich verboten und Übertretungen führen dann zu schweren Strafen.
Snowdon-Diskurse: Jeder wusste es, einer sagt es...
Ein bedeutender Tabu-Bereich in manchen westlichen Gesellschaften sind die eigenen, persönlichen oder finanziellen Verhältnisse.
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„Die Tabuverbote entbehren jeder Begründung, sie sind unbekannter Herkunft; für uns unverständlich, erscheinen sie jenen selbstverständlich, die unter ihrer Herrschaft leben.“ (S. Freud, Totem und Tabu)
Ein Tabu beruht auf einem stillschweigend praktizierten gesellschaftlichen Regelwerk, auf einer kulturell überformten Übereinkunft, die Verhalten auf elementare Weise gebietet oder verbietet. Tabus sind unhinterfragt, strikt, bedingungslos, sie sind universell und ubiquitär, sie sind mithin Bestandteil einer funktionierenden menschlichen Gesellschaft. Dabei bleiben Tabus als soziale Normen unausgesprochen oder werden allenfalls durch indirekte Thematisierung (z. B. Ironie) oder beredtes Schweigen angedeutet: Insofern ist das mit Tabu Belegte jeglicher rationalen Begründung und Kritik entzogen. Gerade auf Grund ihres stillschweigenden, impliziten Charakters unterscheiden sich Tabus von den ausdrücklichen Verboten mit formalen Strafen aus dem Bereich kodifizierter Gesetze.[1] Nahezu alle Lebewesen, Gegenstände oder Situationen, die ins menschliche Blickfeld rücken, können tabuisiert werden. Tabus können sich beziehen auf Wörter, Dinge (z. B. Nahrungstabu), Handlungen (z. B. Inzesttabu), Konfliktpunkte/-themen, auf Pflanzen und Tiere, auf die Nutzung von Ressourcen (siehe Tapu), auf einzelne Menschen oder soziale Gruppen.
Die Begriffe 'Tabu' und Political Correctness haben eine Schnittmenge; sie sind nicht leicht voneinander abzugrenzen.[2]
----------Beipiele:
Die Darstellung von Homosexualität im deutschen Fernsehen war lange Zeit ein Tabuthema.
In den USA taucht in keinem Lebenslauf eines Staatsbediensteten, in keinem Bewerbungsverfahren die Information auf, welche Konfession ein Bewerber hat. Es ist für den Arbeitgeber tabu, danach zu fragen, und für den Bewerber, diese Information zu geben, denn Religion ist Privatsache (Näheres hier). ".. das Thematisierungsverbot ist Amerikas Rezept, um den Anschein zu wahren, dass wirklich keine Rolle spielt, was gemäß dem Anspruch des säkularen Staats keine Rolle spielen darf."[20]
In der US-Army galt bis Dezember 2010 der Grundsatz Don’t ask, don’t tell. Seine Praktizierung machte es für homosexuelle Mitglieder der US-Army tabu, sich zu outen.
[wp]
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http://www.zeit.de/2010/16/Tabus-in-Deutschland/komplettansicht
Was man in Deutschland NICHT sagen darf
Tanz mit mir den Tabu-Tango: Warum Provokateure und Gesinnungspolizisten im deutschen Meinungsklima nicht ohne einander auskommen von Patrik Schwarz
DIE ZEIT Nº 16/2010
16. April 2010 17:05 Uhr
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Ein zugeklebter Mund
Die öffentliche Debatte in Deutschland findet nicht zwischen Linken und Rechten statt, sondern zwischen Tabuhütern und Tabubrechern | © xxee/Photocase
Wahrscheinlich ist der zwölfte Stock der Deutschen Bundesbank kein ganz schlechter Ort, um zu vermessen, wie es in diesem Land um das Meinungsklima bestellt ist. Zum einen bietet die verglaste Fensterfront einen weiten Blick über Frankfurt und das Umland, sodass sich in einem so verwirrenden Terrain wie der Debattenlandschaft ein erstes beruhigendes Gefühl des Überblicks einstellt. Vor allem aber hat in dieser Etage ein Mann sein Büro, der wie kaum ein Zweiter in Deutschland den Cowboy eines Diskurses mimt, der sich um nichts schert: Thilo Sarrazin , der Mann mit dem Pullover.
Wem die Erhöhung der Gaspreise zu teuer sei, der könne ja einen Pullover überziehen. Es war nur einer von Sarrazins Sprüchen als Finanzsenator von Berlin , eines Sozialdemokraten, der unter Bürgermeister Klaus Wowereit das Haushaltsdefizit der Stadt senkte, aber den Puls vieler Leute nach oben trieb. Bundesbankvorstand Thilo Sarrazin hat gute Laune, der 65-Jährige spricht über andere Provokateure. » Alice Schwarzer kann sich ja mit Bischof Mixa auf ein Podium setzen, die beiden würden sich sicher schnell über vieles einig werden.« Mixa und Schwarzer? »Sie will keine Sexmaschinen, er will keine Gebärmaschinen, beide wollen die beseelte Frau.« Pointe, Applaus, Ende der Vorstellung. Darf man derlei in Deutschland sagen?
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Ständig vermischt Thilo Sarrazin – mal fatal, mal vergnüglich – allgemeine Gesellschaftsanalyse, konzentrierte Politik, Borderline-Rassismus und wilde Polemik. Thilo Sarrazin gilt als der Django des Tabubruchs.
Witzbolde
»Eine größere Missachtung des Kreuzes und der Würdenträger der katholischen Kirche und damit der Kirche selbst ist kaum denkbar«, schreibt der CSU-Bundestagsabgeordnete Norbert Geis über das aktuelle Titelblatt des Satire-Magazins »Titanic« . Das wäre eine schlechte Nachricht für die Witzbolde aus Frankfurt. Seit das Bild eines Blechkruzifixes mit der Zeile »Ich war eine Dose« in der »Titanic« erschien, haben sie Deutschlands Katholiken immer wieder provoziert. Die Methode aber lebt von der Steigerung – was wird aus ihr, wenn eine weitere Eskalation nicht mehr möglich ist? Noch tun Geis und Gleichgesinnte den Spöttern den Gefallen, nach dem Staatsanwalt zu rufen. Könnten sie sich das verkneifen, entfiele die letzte Rechtfertigung für solch verletzenden Spott.
Was heißt hier Tabu?
Sprechverbote in einem freien Land – undenkbar? Dies ist die bequemste Form, sich der Frage zu entziehen: Was darf man in Deutschland NICHT sagen? Dass es Sprechverbote geben könnte in der Bundesrepublik, das hat das politische Lager rechts der Mitte bis in die achtziger Jahre immer als Angriff auf die Demokratie denunziert. Umgekehrt bezog die Linke ihren Schwung daraus, gegen tatsächliche und eingebildete Sprechverbote anzugehen: die beschwiegenen Nazisünden der Väter ebenso wie die erfundenen Morde an den RAF-Häftlingen im Gefängnis von Stammheim. Inzwischen haben sich die Rollen verkehrt: Die linken Rebellen von einst haben ihren Frieden mit dem Land gemacht, die Rede von Tabus gilt ihnen als Guerillaangriff neoliberaler Irrlichter.
Eine Stunde und 32 Minuten dauert das Gespräch mit dem Bankvorstand über das Meinungsklima hierzulande. Dann ist der Thilo-Sarrazin-Moment erreicht. Seine Hand knetet seine Lippen, der Ärmel des dunklen Jacketts rutscht zurück, die Hemdmanschette gibt den Blick frei auf seine Armbanduhr. Sie zeigt 15.40 Uhr. Und Thilo Sarrazin tut es wieder. Sagt Sätze, für die er berüchtigt ist. Spricht von einer Volksgruppe, ihrer Arbeitsleistung, ihrer Kinderzahl. Welche? Das möchte er, als es später zur Autorisierung der Zitate kommt, doch nicht gedruckt sehen. »Das wird missverstanden werden.« Damit hat der Mann Erfahrung. In einem Interview mit der Zeitschrift Lettre hatte er vergangenes Jahr über »Kopftuchmädchen« räsoniert und die fehlende Integrationsbereitschaft junger Türken und Araber angeprangert. Warum der Drang zur Wiederholung?
»Ach, wissen Sie, Martin Luther hat als junger Mönch sein Lettre- Interview an die Tür der Schlosskirche von Wittenberg genagelt.« Martin Luther und die Reformation: Ein großer Mann, ein großer Kampf – und vielleicht ist das schon die erste Erkenntnis, die für viele gilt, die sich als Tabubrecher im Land erleben. Ob Alice Schwarzer, Thilo Sarrazin oder Guido Westerwelle , wer sich an die Meinungsfront wirft mit dem Vorwurf, die anderen würden verschweigen, was Sache ist, der tut das, weil er für mehr kämpft als nur den eigenen Ruhm. Er wähnt Millionen hinter sich – oder aber gegen sich.
Thilo Sarrazins Millionen stecken in drei Büroablagen, ordentlich beschriftet »Ordner 1«, »Ordner 2«, »Ordner 3«. Seine Sekretärin verwahrt sie im Vorzimmer, der Bankvorstand führt den Besucher hin. »Ich glaube nicht, dass bei der Bundesbank zu einem Thema je 860 Briefe von Bürgern eingegangen sind«, sagt er, kritisch »waren 16, glaube ich«. Die öffentliche Meinung, das sagen Tabubrecher wie Sarrazin immer gern, unterscheide sich von der veröffentlichten Meinung. Die Presse neige zum Tabu-Reflex, die ZEIT inklusive. »Es gibt auch bei Ihnen – entschuldigen Sie – einige liberale Scheißer«, worunter Sarrazin Leute versteht, »die gut im Speck stehen und von der Warte moralischer Überlegenheit heraus die Welt beurteilen«.
Worüber streitet Deutschland?
»Ist es schon wieder so weit?« und »Man wird doch noch mal sagen dürfen,…« – in der Bundesrepublik bewegte sich der Meinungskampf jahrzehntelang zwischen diesen zwei Extremen. Hier warnte eine Linke, »der Schoß ist fruchtbar noch«, aus dem einst Hitler kroch, dort wetterte eine politische Rechte, die fand, »es war doch nicht alles schlecht«. Gemeinsamer Identitätsquell war für beide Lager die offene Wunde der Nazizeit.
Der größte Streit heute dreht sich nicht mehr um die Geschichte, sondern um die Gegenwart. An fünf Gruppen von Menschen entzündet sich der Streit um Sprechverbote immer wieder: Migranten und Hartz-IV-Empfängern, Frauen, Schwulen und Juden. Gegen sie, sagen die einen, dürfe man ungestraft nichts sagen. Auf sie, lautet der Gegeneinwand, werde doch immer zu allererst eingeschlagen. Was alle fünf verbindet, ist ihr besonderer Status im Meinungsklima: Wie mächtig oder ohnmächtig Frauen, Juden oder Migranten sind, scheint in der Bundesrepublik von heute noch nicht ausgemacht zu sein. Wenn Guido Westerwelle Hartz-IV-Empfänger angreift, dann im Gestus der Notwehr. Werde dieser wachsenden Schar nicht Einhalt geboten, so die Suggestion, gerieten die »Leistungsträger« in die Defensive. Wenn Alice Schwarzer vor der Total-Pornografisierung der Gesellschaft warnt, erscheinen Frauen wieder auf dem Rückweg in die Unterdrückung. Migranten und Hartz-IV-Empfänger, Frauen, Schwule und Juden – an ihnen trägt eine Gesellschaft, die sich sonst oft erstaunlich einig ist, ihre Identitätsdebatten aus.
Es ist auch eine Recherche im Halbschatten der Anonymität. Ist erst mal das Mikrofon aus, oder raucht der Gesprächspartner vor der Tür noch eine Zigarette zum Abschluss, bricht sich so manches Bahn. »Die Regierung in Israel «, sagt dann ein politisch durchaus versierter Kopf, »ist doch eine Mischung aus CSU der siebziger Jahre und der Partei bibeltreuer Christen – aber schreiben Sie das bloß nicht!« Und ein Spindoktor der schwarz-gelben Koalition in Berlin seufzt: »Bloß weil wir die Regierungsmehrheit haben, heißt das noch lange nicht, dass wir die Diskursmehrheit hätten.« Wie gern etwa würde er mal bei einer Abendeinladung sagen: »Ich würde wesentlich lieber Porsche Cayenne fahren als Fahrrad – aber schreiben Sie das nicht!«
Wird also auf dem Schlachtfeld zwischen Porsche Cayenne und Political Correctness , diesen zwei Formen von PC , der neue, stille Bürgerkrieg eines Landes ausgetragen, das mit rechts und links sonst nicht mehr viel anzufangen weiß?
Was droht dem Tabubrecher?
»Du kannst in Deutschland alles sagen, was du willst – du musst nur bereit sein, die Konsequenzen zu tragen«, sagt Michel Friedman . Der TV-Moderator und frühere Vorstand des Zentralrats der Juden, weiß, wovon er spricht: Als Kandidat für den CDU-Bundesvorstand kritisierte er einst Helmut Kohls Machtgebaren – und flog bei der Wahl durch. »Hättest du mit dem Interview nicht eine Woche warten können?«, fragte ein CDU-Grande. Ein Tabu ist auch eine Frage des Zeitpunkts. Trotzdem, die Erfahrung öffentlicher Strafe haben sie fast alle gemacht, auch Thilo Sarrazin, den der Bundesbankchef wiederholt rüffelte. Die Wehklage über mediale oder soziale Ächtung, die Tabubrecher so oft anstimmen, findet Friedman trotzdem feige. »Einer Sache kannst du gewiss sein«, sagt er, »wenn du aus einem Laden rausfliegst, nimmt dich ein anderer umso lieber auf.« Und falls nicht? »Wenn keiner dich aufnimmt, ist es auch nicht so schlimm.«
Den roten Banker Thilo Sarrazin jedenfalls, den Sozialdemokraten mit Schlag zum neoliberalen Partisanentum, kann in dieser Frontstellung kein Lager fest auf der eigenen Seite verbuchen. Müssten, zum Beispiel, nicht der Kopftuchmäd-chen-Kritiker Sarrazin und der Ankläger der spätrömischen Dekadenz von Hartz-IV-Empfängern, Guido Westerwelle, enge Verbündete sein? Als Provokateur stellt Sarrazin dem Mitbewerber ein schlechtes Zeugnis aus. »Ich wollte eine Diskussion über Mängel im Sozialsystem anstoßen, was mir gelungen ist. Westerwelle wollte seine Partei in den Umfragen hochbringen, was ihm nicht gelungen ist.« Die Ursachen für Westerwelles Misserfolg liegen für Sarrazin auf der Hand: »Wenn man Tabus bricht, muss man das mit chirurgischer Präzision tun: Pullover, sonst nichts, Kopftuchmädchen, sonst nichts. Es darf ruhig spontan sein, wenn es durchdacht ist, aber dann hält man den Rand.« Denn: »Ich kann mir das vielleicht ein- bis zweimal im Jahr leisten, ich will ja nicht zum Hofnarren werden.«
Spielt die Wahrheit gar keine Rolle?
Der Zyniker behauptet: Nein. Der Tabubruch lebt nicht von der richtigen Wahrheit, die er ausspricht, sondern von der angeblich falschen, die er zerschmettert. Tatsächlich aber hilft die Wahrheit enorm: Sie erst verschafft Legitimität.
Aber was ist die Wahrheit? Sind Frauen schon viel zu privilegiert? Wird es Zeit, dass die Männer sich wieder behaupten? Oder droht ein versteckter Rollback, bei dem junge Mütter in Teilzeitjobs abgedrängt und Aufsteigerinnen konsequent ausgebremst werden? Reicht es allmählich mit der demonstrativen Sichtbarkeit schwulen Lebens in Deutschland? Oder handelt es sich um eine Minderheit, die allenfalls am Anfang einer umfassenden gesellschaftlichen Anerkennung steht? Und darf man, so wird dann gefragt, »über Juden überhaupt irgendetwas sagen«?
»Wer sagt, den Zweiten Weltkrieg hat es nicht gegeben, der ist ein Fall für den Psychiater«, spottet Michel Friedman, »wer sagt, den Holocaust hat es nicht gegeben, ist ein Fall für den Staatsanwalt.« Als junger Mann hatte Friedman dafür gekämpft, die Auschwitz-Lüge ins Strafgesetzbuch aufzunehmen. »Den Holocaust zu leugnen ist unter Strafe gestellt worden, weil darin eine pädagogische Hoffnung lag«, erinnert er sich. Aber wie passt die Strafandrohung zu Friedmans Diktum: »Du kannst in Deutschland alles sagen, was du willst«? Der Rechtsanwalt ist skeptischer geworden: »Je älter ich werde, umso mehr bin ich im Zweifel, ob eine strafrechtliche Schutzzone wirklich helfen kann. Jedenfalls ist die Zahl der Holocaust-Leugner nicht geringer geworden. Das muss zu denken geben.«
Im Übrigen gebe es einen ganz einfachen Weg, sich in Deutschland zum »Möchtegernhelden« zu stilisieren. Friedman nennt diesen Kniff »Prätabuisierung«: Wer sich profilieren will, erfindet zuerst ein Tabu, um dann mit Lust dagegen zu verstoßen. Einen Tabuhüter mag sich Friedmann freilich nicht nennen.
Wo sind die Tabuhüter?
Wer verhängt die Sprechverbote, gegen die die Westerwelles und Sarrazins so unermüdlich anrennen müssen? Alice Schwarzer ist gewiss eine Tabubrecherin gewesen. Aber hütet sie heute nicht auch die Tabus der Frauenbewegung? Und traut sie nicht den Männern alles Schlechte zu? »Ja, ja, das ist mir schon klar, dass Sie auf die Tabuhüterin Schwarzer rauswollen«, mailt die Emma-Gründerin zurück. »Aber dafür müssen Sie schon selber Belege bringen – ich sehe sie nicht. Denn im Gegensatz zum Klischee bin ich seit 1971 eine der Ersten, die auch die Frauen, bzw. ›Weiblichkeit‹ kritisiert (was mich bei weiten Teilen der Frauenbewegung nicht beliebter gemacht hat). Ist alles nachzulesen.« So ganz kann man Schwarzer das nicht glauben. Aber vielleicht spricht der Tabuhüter viel weniger gern vom Tabu als der Tabubrecher.
So gesehen ist Annelie Buntenbach eine Überraschung. Sie ist gern Tabuhüterin. Sie hat die Rolle der dezidierten Linken im Vorstand des Deutschen Gewerkschaftsbundes übernommen. Als Bundestagsabgeordnete der Grünen gehörte sie einst zu der Handvoll Rebellen, die Kanzler Gerhard Schröder bei der Abstimmung über den Afghanistan-Einsatz die Zustimmung zur Vertrauensfrage verweigerten. Was darf man in Deutschland nicht sagen, Frau Buntenbach? »Man sollte nichts sagen dürfen, was anderen Menschen das Recht auf eine Existenz in Würde abspricht.« So weit, so links. Doch dann greift sich die Sozialpolitikerin eine Vokabel aus dem Zentrum der Westerwelle-Welt: Anstand. »Ich will die Auseinandersetzung darüber, was anständig ist in Deutschland und was nicht.« Westerwelle habe »Leute abgewertet, die sich nicht aus eigener Kraft wehren können«. Wer und was im öffentlichen Raum den Schutz der Allgemeinheit braucht, argumentiert Buntenbach, sei eine Frage des Machtgefälles.
Thilo Sarrazin, in seinem Büro in der zwölften Etage, ist mit solchen Analysen nicht zu beeindrucken. »Das Tabu fängt vor der Antwort an – es klammert schon die Frage aus«, argumentiert Sarrazin.
Wann ist der Tabubruch berechtigt?
Tabus sind eine Frage von Standpunkt und Zeitpunkt. Als Günter Gaus, Doyen der linksliberalen Publizistik, von der »Gnade der späten Geburt« sprach, galt das als kluger Gedanke, als Helmut Kohl ihm dieselbe Formulierung klaute, galt er als geschichtsvergessen. Und wer 1985 in der CDU eine Lanze für Gastarbeiter brach, war an der richtigen Stelle mutig. Wer 1995 die Debatte über die Schattenseiten der Migration als Ausländerfeindlichkeit abtat, war feige.
Doch Sarrazin schafft es verlässlich, mit seinem Argument bei einer Volksgruppe zu landen, jener sicheren Provokation, die er zunächst partout in den Block des Reporters diktieren will, später aber zurückzieht. Der langjährige Politiker spürt die Versuchung – und kennt die Versuchung für die Medien – mit Worten vom Kaliber Kopftuchmädchen Schlagzeilen und vielfache Zitierungen in den Nachrichtenagenturen zu erzielen.
Thilo Sarrazin übrigens weist den Verdacht der rassistischen Zündelei weit von sich. Doch sosehr sich die Fronten im einst klaren Stellungskrieg zwischen links und rechts inzwischen auch verwirrt haben mögen – Rassismus in eindeutiger oder auch in abgeschwächter Form ist immer noch einfach auszumachen. Für ihn gilt, was ein Richter am Obersten Gerichtshof der USA einmal über Pornografie gesagt hat. Da brauche er keine Definition, erklärte der ältere Herr, »I know it, when I see it«.
Was ist die große Schwäche der Tabubrecher?
»Meine politische Erfahrung ist: Wenn ich bei einem Thema etwas bewegen will, muss ich zuerst die Fakten in einer so klaren und eindeutigen Weise benennen, dass niemand an ihnen vorbeikommt – und ich darf bloß keine Lösungen vorschlagen.« Lösungsvorschläge verstopfen den Diskurskanal, denkt Sarrazin. Wenn er Kopftuchmädchen attackiert, zielt er nicht nur auf Gegner, die ihm in der Meinungsarena unterlegen sind. Er erspart sich auch die schwierige Suche nach einer Lösung des Problems, das ihm doch so am Herzen liegt.
Zu den frivolsten Uneindeutigkeiten gehörte im großen Meinungszirkus des letzten Jahrzehnts die Äußerung, durch die Gloria von Thurn und Taxis berühmt (oder berüchtigt) wurde. In der Talkshow Friedman! vom 9. Mai 2001 sagte die Regensburger Fürstin und Papst-Verehrerin: » Afrika hat Probleme nicht wegen fehlender Verhütung. Da sterben die Leute an Aids, weil sie zu viel schnackseln. Der Schwarze schnackselt gerne.« In diesem letzten Satz kommt alles zusammen, was Skandal macht: Sex, Rassismus, Bayern . Michel Friedman erinnert sich genau an die Sendung. »Ich antwortete – ich weiß es noch wie heute –, der Weiße schnackselt doch auch gerne. Doch sie setzte noch mal nach: Aber der Schwarze auch. Da war nichts mehr zu retten. Es war eine eindeutige rassistische Bemerkung.«
Man konnte den Satz auch anders lesen. In einer Sendung, die auf Entgleisung angelegt war, trifft Provokateur auf Provokateuse. Vielleicht ist es ja so: Der Satz war schon vor zehn Jahren keine wirklich gute Idee. Er war aber so auf der Messerschneide zwischen Witz und Skandal, so typisch Gloria eben, dass die Fürstin damit durchkam. In den zehn Jahren danach hat sie den Satz, wiewohl immer wieder darauf angesprochen, nie infrage gestellt. Und so wurde aus einer fragwürdigen Flapsigkeit ein Bekenntnis mit unangenehmem Beigeschmack. Was sagt sie heute?
Die E-Mail mit der Nachfrage erreicht sie in ihrem Landhaus in Kenia , wo sie die Ostertage verbringt. Fürstin von Thurn und Taxis antwortet persönlich, unterzeichnet »Ihre GloriaTT«. »Es ging darum, dass der Moderator Friedman dem Papst die Schuld geben wollte, dass in Afrika die Seuche Aids grassiert. Unter dem Motto, wären Kondome offiziell erlaubt, würden in Afrika die Aids-Fälle zurückgehen. Tatsache ist aber, dass in Ländern wie Uganda, in denen katholische Erziehung zu verantwortlichem Umgang mit Sexualität zum Tragen kommt, die Aids-Zahlen zurückgehen, während in Ländern, die auf Gratis-Kondomverteilung setzen, die Aids-Zahlen steigen. Gegen Aids hilft nur eine verantwortungsvolle, am besten monogame Beziehung zum auserwählten Partner. Das ist sicher schwierig, aber in Afrika genauso möglich wie woanders auch. Ob meine Aussage damals ein Fehler war? Urteilen Sie selbst.«