Derrida, Jacques: Eine gewisse unmögliche Möglichkeit, vom Ereignis der Begegnung zu sprechen. ( Aus dem Französischen von Susanne Lüdemann (Internationaler Merve-Diskurs 254), Berlin 2003, 33f.)
„Der absolute Ankömmling darf nicht als geladener Gast erscheinen, auf dessen Erscheinen ich mich vorbereitet habe und den zu empfangen ich in der Lage bin. Vielmehr ist es jemand, dessen unerwartetes und unvorhersehbares Eintreffen, dessen Heimsuchung - und ich stelle hier die Heimsuchung der Einladung gegenüber - einen derartigen Einbruch bedeutet, dass ich nicht darauf vorbereitet sein kann, ihn zu empfangen. Wenn es wirkliche Gastlichkeit geben soll, darf ich auf die Ankunft des Ankömmlings nicht vorbereitet sein, ja ich darf noch nicht einmal in der Lage sein, ihn kommen zu sehen oder im Voraus zu identifizieren, wie man jemanden an der Grenze fragt: "Name? Staatsangehörigkeit? Woher kommen Sie? Was ist der Zweck ihrer Reise? Wollen Sie hier arbeiten?"
Der absolute Gast, das ist dieser Ankömmling, für den es noch nicht einmal einen Horizont der Erwartung gibt, der, wie man sagt, den Horizont meiner Erwartungen sprengt, während ich noch nicht einmal vorbereit bin, den zu empfangen, den ich empfangen werde. Das ist es, was man Gastlichkeit nennt. So ist ein Gastgeber der, der das Unendliche jenseits seiner Aufnahmefähigkeit zu empfangen habe. Das heisst, dass ich da empfange oder empfangen muss, wo ich nicht empfangen kann, da, wo das Eintreffen des anderen mir lästig ist, wo mein Haus zu klein für ihn erscheint: Der andere wird Unordnung in mein Haus bringen, und ich kann nicht vorhersehen, ob er sich hier, in meiner Stadt, in meinem Staat, in meiner Nation, gut benehmen wird.
Die Ankunft des Ankömmlings wird also nur da ein Ereignis sein, wo ich nicht in der Lage bin, ihn zu empfangen.
So ist die Ankunft des Ankömmlings das absolut Andere, das über mich hereinbricht. Ein vorausgesagtes Ereignis ist kein Ereignis, es bricht über mich herein, weil ich es nicht kommen sehe und somit ist es auch nicht horizontal sondern vertikal. In der Horizontalen sehe ich es kommen, sehe und sage ich es voraus; das Ereignis aber ist das, was niemals vorausgesagt werden kann, es bricht vertikal über mich hinein...“