Durkheim, Émile: Die Regeln der soziologischen Methode (1895, Dt. von René König. Luchterhand, Neuwied/Berlin 1961. ISBN 3-518-28064-3
Die Regeln der soziologischen Methode (1895)
Durkheim geht in diesem Werk davon aus, dass „soziale Fakten als Dinge (zu) behandeln“ sind, d. h. der soziale Tatbestand stellt für ihn die Grundlage aller soziologischen Analyse dar und ist keine bloße „Nebenerscheinung“ von menschlichem Zusammenleben, sondern als Struktur mit eigenem Stellenwert zu betrachten.
Eine soziale Struktur erklärt sich also für Durkheim nicht aus der Summe der Vorstellungen der beteiligten Akteure und existiert unabhängig von denen, die sie erschaffen haben (Emergenzphänomen). Sie wirkt als „Gesellschaft“ von oben auf die Menschen ein und kann von der Soziologie als solche aufgedeckt und durch funktionale (= Wirkung) und historische (= Entstehung) Analyse erklärt werden. Nach Durkheim sind beide Aspekte unbedingt zu beachten. Die moderne Schichtung der Gesellschaft kann also zum Beispiel nicht lediglich dadurch erklärt werden, dass Berufspositionen mit verschiedenen Entlohnungen versehen werden, um sie attraktiver zu machen, weil dabei nur die Wirkung betrachtet würde.
Durkheim gibt drei Kriterien für soziale Strukturen („Gesellschaft“) an:
1.Allgemeinheit:
Die Regeln der geltenden Struktur gelten für alle Individuen, die in ihr interagieren.
2.Äußerlichkeit:
Die Struktur wird als unabhängig von der eigenen Person empfunden und kann nicht als Summe der individuellen Vorstellungen der in ihr handelnden Akteure begriffen werden.
3.Zwang:
Es ist dem Einzelnen nicht möglich, der sozialen Struktur entgegenzuwirken, da er dieser quasi unterworfen ist. Nichtbeachtung der gesellschaftlichen Regeln zieht mehr oder minder schwere Sanktionen nach sich. Die Determination des Handelns kann auch ohne Wissen der handelnden Personen geschehen, d. h. z. B. dass sich die Akteure der gesellschaftlichen Regeln nicht unbedingt bewusst sein müssen und diese mitunter intuitiv befolgen.
Das kollektive Gewissen oder auch kollektive Bewusstsein (conscience collective) der Gesellschaft, in der man geboren wurde, wird durch Erziehung in den Einzelnen hineingetragen und schlägt sich in dessen Moralvorstellungen, Sitten und Glauben nieder.
„Die Gesamtheit der gemeinsamen religiösen Überzeugungen und Gefühle im Durchschnitt der Mitglieder einer bestimmten Gesellschaft bilden ein umgrenztes System, das sein eigenes Leben hat; man könnte sie das gemeinsame oder Kollektivbewußtsein nennen. Zweifellos findet es sein Substrat nicht in einem einzigen Organ. Es ist definitionsgemäß über die ganze Gesellschaft verbreitet. Trotzdem hat es spezifische Charakterzüge, die es zu einer deutlich unterscheidbaren Wirklichkeit machen. In der Tat ist es von den besonderen Bedingungen unabhängig, denen sich die Individuen gegenübergestellt sehen. Diese vergehen, es aber bleibt bestehen.“
– Émile Durkheim[7]
Nach Durkheim ist der kollektive Zwang nicht direkt beobachtbar, aber in der negativen Sanktionierung von abweichenden, d. h. regelwidrigen Verhaltensweisen feststellbar und messbar. Wenn diese Abweichung in der Gesellschaft zur Regel wird, das kollektive Gewissen also nicht mehr in der Lage ist, für die Aufrechterhaltung der Ordnung zu sorgen, spricht man von „Anomie“. Dies bedeutet, dass die Gesellschaft vom „Normalzustand“ in einen „pathologischen“ Zustand übergegangen ist.
Im sechsten Kapitel („Regeln der Beweisführung“) bestimmt Durkheim die Methode der kulturvergleichenden Sozialforschung als „die einzige, welche der Soziologie entspricht.“ (1991, S. 205), vgl. Vergleich (Philosophie). Im ersten Abschnitt (I) setzt sich Durkheim kritisch mit Comte und John Stuart Mill auseinander. Im zweiten Abschnitt (II) untersucht Durkheim vier verschiedene Verfahren der vergleichenden Methode:
1.Methode der Residuen
2.Methode der Konkordanz
3.Methode der Differenz
4.Methode der parallelen (konkomitanten) Variationen.
Die ersten drei Verfahren eignen sich Durkheim zufolge nicht für die Untersuchung sozialer Phänomene, da solche Phänomene zu komplex sind. Dagegen hält Durkheim das Verfahren der parallelen Variationen für ein „ausgezeichnete[s] Instrument der soziologischen Forschung“ (1991, S. 211). Im dritten und letzten Abschnitt (III) behandelt Durkheim den Vergleich mehrerer Gesellschaften.