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Gertenbach, Lars:Entgrenzungen der Soziologie. Bruno Latour und der Konstruktivismus. Velbrück, Weilerswist 2015 ISBN 978-3-95832-049-9

Denn statt aus Unbehagen mit einem falsch verstandenen Konstruktivismus diesen ganz zurückzuweisen oder in seiner Reichweite einzuschränken, schlägt Latour einen radikalen und materialistisch gewendeten Konstruktivismus vor, ohne in plumpen/naiven Realismus zurückzufallen.

... Blick auf die internationale, insbesondere englischsprachige Diskussion wäre eine solche Engführung allerdings höchst problematisch, da wesentliche Bereiche konstruktivistischer Forschung ausgeblendet würden. Insbesondere im Hinblick auf den soziologischen Konstruktivismus im engeren Sinne treten die Differenzen zwischen den einzelnen Sprachräumen zutage. Während die Mehrzahl der deutschsprachigen theoretischen Abhandlungen über konstruktivistisches Denken dem Umfeld des Radikalen Konstruktivismus entstammen oder diesen zumindest als zentralen Protagonisten behandeln, greifen die amerikanischen und britischen Diskussionen um ›social construction‹ auf zahlreiche andere Referenzautorinnen und -autoren zurück – und eben nahezu überhaupt nicht auf Luhmann, Ernst von Glasersfeld oder Heinz von Foerster.12 Hinzu kommt, dass es zumindest im englischen Sprachraum üblich ist, zwischen constructionism und constructivism zu unterscheiden – eine Differenz, für die im Deutschen keine begriffliche Entsprechung existiert. Während der soziologische Konstruktivismus als constructionism begriffen wird, bezieht sich der Begriff constructivism dort weitgehend auf psychologische und wahrnehmungstheoretische Überlegungen im Anschluss an Piaget, welche die Konstruktion der Welt für ein Subjekt bzw. einen Beobachter zum Thema haben. Die genuin soziale Komponente der Konstruktion von Realität zu untersuchen, d.h. jene, welche über Interaktionen, Kommunikation und intersubjektive und kollektive Praxis thematisiert wird, obliegt dem Ressort des constructionism bzw. (wie meist synonym verwendet) dem social constructionism.

... Phase der allmählichen Begriffswerdung in den 1960er- und -70er-Jahren gelten muss. Da im Folgenden der soziologische Konstruktivismus im Zentrum des Interesses steht, werden nicht alle existierenden Formen des Konstruktivismus behandelt. Insbesondere der Methodische Konstruktivismus der so genannten Erlanger Schule um Paul Lorenzen bleibt ausgespart, da er insgesamt kaum nennenswerten Einfluss auf die Soziologie gehabt hat.14 Ebenso wie dekonstruktivistische Positionen bleibt zudem der psychologische Konstruktivismus im Anschluss an Jean Piaget ausgeklammert, auch wenn dieser den Begriff bereits 1937 in einer Publikation titeltragend verwendete (vgl. Piaget 1937).