zurück ]      [ Stichworte ]      [ Die Hyper-Bibliothek ]      [ Systemtheorie ]         [ Meine Bücher ]

Ulmann, Gisela: Piaget verstehen – und re-interpretieren

Volltext https://www.kritische-psychologie.de/files/FKP_57_Gisela_Ulmann_1.pdf

Fazit:
IV. Re-Interpretation I.: Entwicklung als über Stufen „steigendes“ Subjekt
Betrachtet man nur die Daten, wie Piaget sie in den oben beschriebenen 4 Phasen fasste, so wird – wie auch durch die Ableitung verdeutlicht werden sollte – sein Forschungsgegenstand klar. Er ging von einem Stadium definierter Operationen und Kategorien der Erkenntnis aus und zeigte logisch vorgeordnete Vorstadien auf. Diese begründete er nicht nur theoretisch und logisch, sondern gab für sie auch empirische veranschaulichende Daten. Damit beschrieb er aber keineswegs die „geistige Entwicklung“ (oder gar kognitive Entwicklung) von Kindern (wie in psychologischen Rezeptionen in der Regel behauptet wird), sondern er stellte nur die Reihenfolge dar, in der sich Kinder diese gesellschaftlich-historisch entwickelten Operationen und Kategorien aneignen i.e.S. des Wortes „sich (mit Verständnis) zu eigen machen“ können, wenn sie die Gelegenheit (und die Fähigkeit) dazu haben.

Er hat übrigens selbst vermerkt, dass „die formale Logik keine adäquate Beschreibung des lebendigen Denkens in seiner Gesamtheit“ ist, „die formalen Operationen bilden nur die Struktur“ (PI, 1947, 170).

Textstellen

Wenn ein Kind die Frage, ob es mehr Blumen oder mehr Glockenblumen gebe, zunächst damit beantwortet, dass es diese nicht gezählt habe, dies also für ein empirisch zu lösendes Problem hält, und wenn dies selbe Kind diese Frage etwas später richtig beantwortet, so nicht deshalb, weil es sie inzwischen gezählt hätte, sondern weil es seine Operationen der Klassenbildung reflektierend zueinander ins Verhältnis setzen kann. Die Bewegung ist aber nach Piaget „spontan“, erfolgt in Selbstregulation.

Kann ein Kind den Zahlbegriff, wie Piaget ihn untersucht, selbst „konstruieren“ – oder kann es sich den Zahlbegriff (ihn konstruierend) aneignen, weil (bzw. wenn!) er gesellschaftlich entwickelt ist?

Tonkugeln zu verformen oder Perlen aufzufädeln (Tätigkeiten, die Piaget in seiner Antwort aufführt) sind zwar „praktische“ Aktivitäten (im Unterschied zu verbalen), sie sind aber keineswegs das, was Wygotski mit Lebenspraxis meinte. Sehr deutlich wird das Gemeinte m.E. in einem Expeditionsbericht seines Kollegen Lurija aus den 1930er Jahren39: Menschen, deren (subsistenzwirtschafliche) Lebenspraxis keine formale Logik notwendig machte, „entwickelten“ diese gemäß Lurijas Beobachtungen auch im hohen Alter nicht; sie bildeten Begriffe „situativ“. Menschen, die zumindest ein wenig beschult wurden, oder seit einiger Zeit in Kolchosen arbeiteten, konnten formale Kategorien bilden und logische Schlüsse ziehen.
[[ das sehe ich in meinem Alltag als mein Problem: die Leute brauchen nicht zu denken !! Es spielt keine Rolle, ob sie es könnten ]]


Forum Kritische Psychologie 57, 2013: Lehren, Lernen, Aufklärung
Inhalt
Editorial
Morus Markard Nachruf auf Christof Zirkel (30.07.1965 – 11.09.2012)
***
Gisela Ulmann: Piaget verstehen – und re-interpretieren
Frigga Haug: Lernen lehren und Lehren lernen
Ute Osterkamp: Was heißt Aufklärung? Einwurf zu Frigga Haugs „Lernen lehren und Lehren lernen“
Gisela Ulmann: Wie lehren, damit gelernt wird? (FKP_57_Gisela_Ulmann_2.pdf)
[ ]