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Rolf Todesco

Schweigen die Sirenen?
oder Franz Kafka's re-entry's              Franz Kafka: Das Schweigen der Sirenen              Homer Sirenen

Es hiess, dass die Sirenen sängen und dass wer sie singen höre, ihrem Singen zu seinem eigenen Verderben ausgeliefert sei.

entry: hören versus nicht hören

Um sich vor den Sirenen zu bewahren, stopfte sich Odysseus Wachs in die Ohren und liess sich am Mast festschmieden. Er vertraute vollständig der Handvoll Wachs und dem Gebinde Ketten und in unschuldiger Freude über seine Mittelchen fuhr er den Sirenen entgegen.

Homer hat die Geschichte nicht so erzählt, ich komme darauf zurück.

Als Odyseus an den Sirenen vorbeifuhr, hörte er nichts. Er schien die Sirenen überlistet zu haben und hatte nicht zuletzt deshalb den Nimbus, der Listenreichste unter allen Menschen zu sein.

In der Notation von G. Spencer-Brown unterscheidet Odyseus hören und nicht hören. Er begibt sich, indem er Wachs in seine Ohren steckt, auf die Seite des nicht-hören-Könnens.

re-entry: Homer's Erzählung versus was der Fall war

Aber wie war es wirklich - einmal davon abgesehen, das Homer die Geschichte gar nicht so erzählte? A. Korzybski schrieb: "the map is not the territory". Die Erzählung von Homer ist unabhängig davon, ob Homer je gelebt hatte, nur eine Beobachtung, die hier von F. Kafka (nach)erzählt wird. G. Spencer Brown gab uns den Rat, den Beobachter zu beobachten. Das ist eine ganz perfide Geschichte, wenn die Beobachtung so verschachtelt ist. Zumal hier ja ich erzähle, dass Odyseus sich Wachs in die Ohren steckte, obwohl ich gar nicht weiss, wie es war, sondern nur, dass Homer, der ja auch nicht dabei war, sondern die Geschichte nur hörte, die Geschichte anders erzählte.

Dann aber muss ich natürlich auch - am liebsten in einem operativen Sinne - wissen, wie das Beobachten überhaupt funktioniert. G. Spencer Brown deklariert die Grundoperation der Beobachtung in seinem Kalkül mit der Anweisung: Triff eine Unterscheidung und benenne mindestens die eine Seite der Unterscheidung (marked space). Genialerweise haben wir ja in unserer Sprache das "nicht", so dass die andere Seite der Unterscheidung immer gleich mitbenannt ist (unmarked space). Homer dachte, dass man das Singen der Sirenen hören oder nicht hören könne. Als er sah, dass Odyseus Wachs in die Ohren steckte, dachte er, dass Odyseus die Sirenen nicht hören würde. Und wir könnten denken, dass Odyseus das auch dachte, weil er die gleiche Unterscheidung wie Homer verwendet hätte.

re-enry: davon gehört haben versus sich nicht daran erinnern

Nun scheint manchen die List mit dem Wachs in den Ohren nicht sehr gross. F. Kafka nämlich schreibt: ähnliches hätten natürlich seit jeher alle Reisenden tun können, außer denen, welche die Sirenen schon aus der Ferne verlockten, aber es war in der ganzen Welt bekannt, daß dies unmöglich helfen konnte. Der Sang der Sirenen durchdrang alles, und die Leidenschaft der Verführten hätte mehr als Ketten und Mast gesprengt. Daran aber dachte Odysseus nicht, obwohl er davon vielleicht gehört hatte.

Odyseus wählte ein scheinbar ganz und gar untaugliches Mittel, welches vielmehr den Mut des Ignoranten als grosse Listigkeit verrät. Er hatte aber Erfolg damit. Vielleicht, aber nur vielleicht sollten wir diesen Erfolg nicht seiner List zuschreiben. Dann aber bräuchten wir eine Erklärung für den Erfolg des Unschudigen mit untauglichem Mittelchen. []

re-enry: singen versus schweigen

Nun haben aber die Sirenen eine noch schrecklichere Waffe als den Gesang, nämlich ihr Schweigen. Es ist zwar nicht geschehen, aber vielleicht denkbar, dass sich jemand vor ihrem Gesang gerettet hätte, vor ihrem Schweigen gewiss nicht. Dem Gefühl, aus eigener Kraft sie besiegt zu haben, der daraus folgenden alles fortreißenden überhebung kann nichts Irdisches widerstehen.

Und tatsächlich sangen, als Odysseus kam, die gewaltigen Sängerinnen nicht, sei es, dass sie glaubten, diesem Gegner könne nur noch das Schweigen beikommen, sei es, dass der Anblick der Glückseligkeit im Gesicht des Odysseus, der an nichts anderes als an Wachs und Ketten dachte, sie allen Gesang vergessen liess.

Odysseus aber, um es so auszudrücken, hörte ihr Schweigen nicht, er glaubte, sie sängen, und nur er sei behütet, es zu hören. Flüchtig sah er zuerst die Wendungen ihrer Hälse, das tiefe Atmen, die tränenvollen Augen, den halb geöffneten Mund, glaubte aber, dies gehöre zu den Arien, die ungehört um ihn verklangen. Bald aber glitt alles an seinen in die Ferne gerichteten Blicken ab, die Sirenen verschwanden förmlich vor seiner Entschlossenheit, und gerade als er ihnen am nächsten war, wußte er nichts mehr von ihnen.

Das Schweigen der Sirenen liegt, um es so auszudrücken, im blinden Fleck von Odyseus verwachsten Ohren, er kann nicht wahrnehmen, was er nicht wahrnehmen kann. F. Kafka aber, die eigentliche Waffe der Sirenen kennend, erkennt durch seine Beobachtung 2. Ordnung, was Homer und Odyseus aufgrund ihrer Unterscheidung nicht wahrhaben können. Wer sieht, dass Odyseus zwischen hören und nicht hören wählte, sieht auch was Odyseus nicht nicht hören konnte.

Natürlich musste auch F. Kafka für seine Beobachtung eine Unterscheidung treffen. Und wir wissen jetzt, warum Odyseus unabhängig vom Wachs in seinen Ohren, der vermeintlichen Verführung widerstanden hat, nämlich weil es nichts zu hören gab. Aber - warum sangen die Sirenen nicht, wo sie den Odysee doch so leicht hätten kriegen können?

re-enry: verführen versus sich verführen lassen

Sie aber - schöner als jemals - streckten und drehten sich, ließen das schaurige Haar offen im Winde wehen und spannten die Krallen frei auf den Felsen. Sie wollten nicht mehr verführen, nur noch den Abglanz vom großen Augenpaar des Odysseus wollten sie so lange als möglich erhaschen. Hätten die Sirenen Bewußtsein, sie wären damals vernichtet worden. So aber blieben sie, nur Odysseus ist ihnen entgangen.

Die eigentliche Geschichte - von welcher Homer nichts wusste oder wissen wollte - ist die Ambivalenz der Verführerinnen, die auf das Fleisch, das Odyseus für sie gewesen wäre, verzichteten, um seinen Geist in den Wahn zu führen, er hätte sie besiegt.

re-enry: durchschauen versus durchschaut werden

Es wird übrigens noch ein Anhang hierzu überliefert. Odysseus, sagt man, war so listenreich, war ein solcher Fuchs, daß selbst die Schicksalsgöttin nicht in sein Innerstes dringen konnte. Vielleicht hat er, obwohl das mit Menschenverstand nicht mehr zu begreifen ist, wirklich gemerkt, daß die Sirenen schwiegen, und hat ihnen und den Göttern den obigen Scheinvorgang nur gewissermaßen als Schild entgegengehalten.

Und die Moral von der Geschichte: Wahre List durchschaust Du nicht. Sie ist die List 2. Ordnung, die für einen Beobachter noch so vielter Ordnung, wie es auch die Schicksalsgöttin sein mag, nicht durchschaubar ist. F. Kafka jedenfalls lässt offen, was mit Menschenverstand nicht mehr begreifbar ist. Er verweigert, um es so auszudrücken, der Anweisung von G. Spencer Brown Folge zu leisten. So wissen wir nun nicht, ob Odyseus die Götter durchschaute oder sich von ihnen durchschauen und anschauen liess.

Und wenn ich die Geschichte - Sie wissen doch jetzt, von welcher die Rede ist - lese, könnte auch ich eine Unterscheidung treffen. Aber wäre das nicht ziemlich blöd?

Epilog

Und die Moral der Moral besteht darin, dass einige autopoietistische Soziologen das Beobachter beobachten mit dem Beobachten 2. Ordnung verwechselt haben. Im ersten Fall geht es darum, dass diese Beobachter-Soziologen die Wirklichkeit viel besser verstehen, als jene bewusstlosen Beobachter, die sie beobachten. Im zweiten Fall ginge es darum, dass die Soziologen ihren Wahn aufgäben - falls er nicht Bestandteil einer alles umfassenden und alles Irdische fortreissenden List wäre.


 

G. Ortmann