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Todesco, Rolf

Lügen alle Kreter?

Eine konstruktive Lösung der Kreter Paradoxie

In: Rusch, G. u.a. (Hg): Interne Repräsentationen, Delfin 1996, Suhrkamp, stw 1277, Frankfurt1996


 

Der vielgeachtete Philosoph Eubulides, der die ihm entgegengebrachte Achtung ohne weiteres an seinen noch bekannteren Lehrer Euklid von Megara weitergab, erzählte eines Tages im Schatten des einzigen Baumes, der am Rande des Marktplatzes von der griechischen Bauwut, die alle Bäume durch strenge Steinsäulen ersetzte, verschont geblieben war, Epimenides, der Kreter sage, dass alle Kreter lügen. Die meisten seiner halbwegs anwesenden Kollegen hielten ohnehin nicht allzuviel von den Kretern, sie staunten nur ein wenig darüber, dass Epimenides, ein Exemplar der Kreter, die man allgemein für sprachlose Barbaren hielt, so treffend über sein Volk sprechen konnte.

Eubulides ärgerte sich. Sein als paradoxes Rätsel gedachter Witz war bei seinen griechischen Freunden, die allesamt auch kretische Sklaven hielten, nicht angekommen: "Wo habt Ihr Eure Sinne? Merkt Ihr denn nicht, dass wenn Epimenides lügt, wie er es als Kreter seiner eigenen Aussage nach tun müsste, die Kreter gar nicht lügen, was aber nicht stimmen kann, weil er selbst dann ja auch nicht lügen dürfte?"

Es dauerte eine ganze Weile bis er wenigstens von einer Minderheit unter seinen Philosophenkollegen verstanden wurde, aber dann erhob sich eine wirre Diskussion. Eubulides, der vielgeachtete, hatte in einer Zeit, in welcher die meisten Philosophen um ihre Arbeit fürchteten, weil praktisch alle praktischen Probleme ausdiskutiert waren, das Paradoxon erfunden und so zur Erhaltung seines Standes ganz wesentlich beigetragen.

Die eigentlichen Philosophen - es waren auch unter den Griechen nicht sehr viele - hatten natürlich ihre helle Freude am neuen Problem, während viele der weniger Gebildeten - wider alle Vernunft, wie es schien - versuchten, das Problem zu lösen. Ein ganz Schlauer, der sich aber damit unter den Griechen aus leicht erkennbaren Gründen keine Freunde machte, erklärte, dass in Wirklichkeit eben nicht alle Kreter immer lügen würden, wohl aber Epimenides, wenn er seine Aussage mache. So liesse sich die ganze Geschichte ohne Paradoxie verstehen. Eubulides, der nicht nur Grieche, sondern vor allem ein gescheiter Grieche war, ärgerte sich nun auch noch über die Dummheit jener, die solche Lösungen vorschlugen, womit sie offensichtlich nur verrieten, dass sie nicht einmal merkten, wie das Spielchen im Grunde gemeint war.

Einige Zeit später, Eubulides machte bereits einen etwas verwirrten Eindruck, trat er wieder vor das Publikum, das seine Kretergeschichte mit fadenscheinigen Argumenten störte, und verkündete, um alle zum Verstummen zu bringen: "Ich lüge!"

Eine nicht ganz kleine Minderheit (deren Nachkommen auch heute noch zu finden sind) blieb ganz ohne Verständnis darüber, was Eubulides überhaupt sagen wollte, während viele der anwesenden Philosophen, denen Wahnsinn und Genie ohnehin zum Verwechseln nahe lagen, die Paradoxie nun noch ernster nahmen. Von den Gewöhnlichsterblichen, deren Verstand aus praktischen Gründen immer schon zwischen Wahnsinn und Genie unterscheiden musste, wurde Eubulides wie viele andere Philosophen mit jener grossen Nachsicht behandelt, die sich erst viel später in Irrenhäusern institutionalisierte. Sie waren es gewohnt, dass sich die geistige Elite manchmal etwas verrannte. Und viele, die Eubulides über sich reden hörten, meinten einfach, er sei etwas früh kindisch geworden.

* * *

Eines Tages, als sich die Philosophen um Eubulides gerade wiedereinmal an seinem Rätsel dumm ärgerten, mischte sich ein unscheinbarer Gaukler, der auf dem Marktplatz seine Künste vorführte, in ihre Mitte. Er war wie jene gewöhnlichsterblichen Griechen gekleidet, die auch ohne Beschäftigung umherlungerten und den Sklaven die Arbeit neideten. Letzteres allerdings tat er nicht, zu gut kannte er die Launen der griechischen Herren. Nicht nur weil er Experte des doppelten Spieles war, realisierte er sofort, dass und wie die Philosophen zauberten, obwohl sie nicht mit Karten und Tauben, sondern nur mit Worten spielten. Als er halb wider Erwarten und halb durch Zauberei zur Rednerbühne zugelassen wurde, erzählte er von einer ungeheuren Zauberei, in welcher ein Papagei in einen Menschen verwandelt worden sei, was er mit eignen Augen gesehen haben wollte.

Die meisten der ohnehin nur halbwegs anwesenden Philosophen verstanden nicht, was der Papagei mit ihrem Rätsel zu tun haben könnte. Sie verlangten nach geziemender Aufklärung, obwohl sie ahnten, dass der Gaukler ein Barbar war, was kaum Gutes verheissen konnte.

"Zauberer", erklärte der Redner geduldig, "tun alles, damit das Publikum den Zauber nicht sieht. Das gelingt ihnen, solange das Publikum alles versucht, um den Zauber zu sehen. Der Zauber des Zauberns beruht auf der Aufrechterhaltung einer bestimmten Neugier. Da ich Zauberer bin, sollte ich keine Schleier lüften. Hier aber will ich eine begründete Ausnahme machen. Wenn Sie, meine werten Philosophen, weiterhin zuhören, riskieren Sie allerdings, dass Sie sich am Zauber der Paradoxien nie mehr unvermittelt freuen können. Ich werde nämlich im folgenden Ihren Blick auf die Dinge lenken, von welchen Eubulides sein Publikum bisher - nicht ohne Eigennutz - gerade so erfolgreich abgelenkt hatte".

Er wartete ein wenig, aber niemand ging, im Gegenteil, die Zuhörerschar vergrösserte sich. "Ihr habt Euch entschlossen? Also schwenken wir unsere Aufmerksamkeit auf einige zuvor nicht beleuchtete Dinge: Zuerst ist da natürlich Eubulides selbst. Er gehört mit zur Geschichte, er ist der erzählende Beobachter, ohne den es die Geschichte von Epimenides gar nicht geben würde. Also ist unsere Geschichte eine Geschichte, in welcher wir den barbarischen Kreter Epimenides und den Zauberer Eubulides beobachten".

Der Gaukler zeigte mit gestrecktem Finger auf den rasch herbei geholten Eubulides und sagte: "Nun dann, wenn ihr es so wollt, so erzähle ich euch seine Geschichte". Zu Eubulides gewandt fügte er mit listigem Lächeln an: "Ihr erlaubt es mir wohl?"

Die Philosophen, die gerne Geschichten hörten, machten es sich bequem. Der Gaukler begann zu erzählen:

Noch nicht lange ist es her, dass Epimenides auf diesem Markte wohlfeil angeboten und schliesslich vom grossen Philosophen Eubulides als Sklave gekauft worden war. Weil der vielgeachtete Eubulides auch bei niedrigen Tätigkeiten wie Einkaufen wenig Zeit fürs Detail hatte, realisierte er damals erst zu hause, dass man ihn auf dem Markt einmal mehr übers Ohr gehauen hatte, obwohl ihm das schon oft geschehen war, wenn er mit gewöhnlichen Händlern verkehrte. Epimenides, der Sklave, den er zu teuer erstanden hatte, war nämlich der einzig brauchbaren Sprache, dem Griechischen, gar nicht mächtig, wenngleich er dem Anschein nach sehr schön sprechen konnte. Rasch entdeckte Eubulides, dass Epimenides das Griechische, ohne dessen Wörter zu verstehen, lediglich nachahmen konnte wie ein Papagei. Wie bei allem, was zu Markte getragen wird, glänzte bei ihm nur die Oberfläche.

Eubulides schlug sich an den Kopf; er hätte wissen müssen, wozu ein kretischer Barbar bestenfalls in der Lage war. Um sich nicht öffentlichem Gelächter preiszugeben, behielt er aber seinen Sklaven, allerdings nicht ohne diesen für seine eigene Ungeschicklichkeit zu strafen. So sprach er seinem Sklaven etwa den sinnhaften, wenn auch nicht wahren Satz vor: "Alle Kreter sind dumm", und verlangte von ihm, einfach um sich ein Spässchen zu machen, dass er den Satz wiederholte. Epimenides tat dann, wie ihm geheissen, und wiederholte den Satz: "Alle Kreter sind dumm".

Eubulides, der sich die Geschichte auch anhören musste, wurde verständlicherweise rasch sehr ungehalten, aber der Anstand und die von ihm immer lauthals verteidigte Redefreiheit zwangen ihn zu schweigen, bis der Redner schliessen würde. Der Gaukler fuhr also ungestört fort:

Der grosse Eubulides wusste seinen Verstand häufig nicht vernünftiger einzusetzen, als seine Sklaven damit zu schikanieren, dass sie etwas gegen sich oder gegen ihr Volk sagen mussten. Ihm gefiel das böse Spiel, dass er schon als Kind getrieben hatte, als er erst vage erfasste, dass es Fremde oder fremdsprachige Mitmenschen gibt. Früh schon, kaum der Schrift mächtig, veräusserte er auch sein eigenes Ich, indem er mit seinen Fingern in den Dreck der benachbarten Häuser schrieb: "Ich bin der Schweinestall von Augias". Natürlich ahnte der keineswegs mehr kindliche Eubulides, dass er dieses Spiel mit seinen Sklaven nicht ungestraft spielen würde, aber seine Fantasie reichte nicht aus, um sich Strafen vorzustellen, die er mit seinem Geld nicht wegstecken konnte.

Doch Geld hilft nicht immer, die Rache des Spieles war subtil: Als der Kreter Epimenides gerade wiedereinmal, wie ihm geboten, wiederholte, dass alle Kreter lügen, erkannte Eubulides, dass sein so lustiger Spass gar nicht gelungen war. Aus dem, was er Epimenides in diesem Falle zu wiederholen aufgetragen hatte, konnte man nämlich gar nichts schlechtes über die Kreter ableiten, denn falls Epimenides lügen würde, wie er es als Kreter seiner eigenen Aussage nach tun müsste, würden die Kreter ja gar nicht lügen, was aber auch nicht stimmen konnte, weil dann Epimenides selbst ja auch nicht lügen dürfte. Sein Sklave schien mit seinem Satz nicht nur nicht zu lügen, sondern sogar unverschämt klug, fast schon philosophisch orakelnd zu argumentieren - was Eubulides nebenbei bemerkt natürlich überhaupt nur erkennen konnte, weil er wusste, dass der Sklave ja nur seine Worte nachgeplappert hatte. Trotzdem ärgerte er sich.

Eubulides musste immer stärker gegen seine Wut ankämpfen, er überlegte angestrengt, aber ohne Erfolg, wie er den Barbaren stoppen könnte. Je wütender Eubulides wurde, umso mehr freute sich der Redner. Ohne sich durch Eile um den Genuss zu bringen, erzählte er seine Geschichte weiter:

Um seinen Aerger über sein misslungenes Spielchen zu verdrängen, begab sich Eubulides nun gelehrt bekleidet, wie es sich für grosse Rhetoriker ziemte, in die Zirkusarena der griechischen Intelligenzia, also auf Euren fast baumlosen Dorfplatz, und erzählte Euch dort seine Geschichte, mit der er Euch schliesslich doch noch zu verblüffen vermochte. Dazu musste Eubulides allerdings etwas schwindeln: er musste so tun, als ob sein Sklave den kritischen Satz selbst gesprochen, statt auf Geheiss hin nachgeplappert hätte. Eubulides schien in einer paradoxen Situation zu sein: der von ihm entdeckte Satz leistete die Paradoxie natürlich nur, wenn er als Satz von Epimenides betrachtet wurde, andernfalls wäre der Satz - jedenfalls für Euch - einfach selbstverständlich nur wahr gewesen.

Ein Raunen ging durch die Menge. Der Redner liess sich weder beirren noch bremsen, er war in voller Fahrt. Einige der anwesenden Philosophen hatten den Faden längstens verloren. Bei Eubulides dagegen vermischte sich die Wut über den offen höhnenden Barbaren zunehmend mit der Angst, dass es diesem gelingen könnte, ihn vor der versammelten Intelligenzia über den Tisch zu ziehen. Der Redner verbeugte sich leicht, aber mit sichtbarer Ironie vor Eubulides, der sich kaum mehr beherrschen konnte und krampfhaft überlegte, wie er den Vortrag kraft seiner noch vorhandenen Autorität abbrechen könnte. Doch der Redner hatte seinen Faden bereits wieder aufgenommen:

Das Schlimmste aber war, dass die Paradoxie dem Philosophen selbst arg zu schaffen machte. Eubulides verstrickte sich zunehmend mehr in seiner rätselhaften Geschichte, ohne auch nur das Geringste zu deren Aufklärung beitragen zu können. Seine Sklaven, allen voran Epimenides, peinigte er nun körperlich, was er zuvor, als er seinen Sadismus noch mit seinen Sprachspielchen befriedigen konnte, nie getan hätte. Allein, auch das half ihm nichts, seine Lage wurde nur noch schlimmer. Er hatte immer öfter furchtbare Albträume, die ihn auch tagsüber, wenn er sich an seinen Sklaven abreagierte, nicht in Ruhe liessen.

In einer besonders dunklen Nacht, nachdem Eubulides Epimenides einmal mehr für nichts und wieder nichts hatte auspeitschen lassen, musste er im Traum seinen Sklaven bei lebendigem Leibe fressen. Natürlich wehrte sich der Sklave mit Händen und Füssen gegen das Verschlungenwerden. Schweisstriefend und würgendem Ersticken nahe erwachte Eubulides schliesslich mit geblähtem Magen und ausgerenktem Kiefer. Schwer gefüllt, wie er sich fühlte, und ohne Möglichkeit nach Hilfe zu rufen, fand er sich in der Falle, in welcher die Schizophrenie lauert. Und als am Morgen Epimenides, nach welchem er sofort verlangte, nachdem ihn sein Leibsklave halb in die Wirklichkeit zurückgeholt hatte, auch unter allen Androhungen nicht mehr zu finden war, schnappte die Schizophreniefalle endgültig zu - und Eubulides über.

Ein empörtes Murren ging durch die versammelte Philosophie. Den Schluss der Rede hörten alle:

Nun zwang das böse Spiel Eubulides, der von Epimenides gar nicht mehr ablassen konnte, in sich selbst hinein zu befehlen. Zu zweit, wie Eubulides damit geworden war, befahl einer dem andern zu sagen: "Ich lüge", was der andere dann wie zuvor sein Sklave ohne Verständnis papageite. Da von aussen auch bei Schizophrenen nur ein Mensch zu sehen ist - was deren Hölle gerade ausmacht -, schien Eubulides sich selbst zur Figur seines Rätsels gemacht zu haben, obwohl er, soweit er noch Eubulides war, mit seinem Sklaven sprach.

Der Redner zeigte nun nicht mehr auf Eubulides, sondern auf sich selbst.

Ich bin, wie Ihr hören könnt, der griechischen Sprache mächtig. Ich verstehe aber immer noch nicht, weshalb sich so viele, scheinbar Gebildete für das einfältige Spiel von Eubulides so begeistern können. Ich verstehe aber ohnehin nur die Sprache der Griechen, nicht die Griechen selbst. Zu sagen, ich lüge, würde mir mit meiner bescheidenen Bildung so wenig in den Sinn kommen, wie Sklaven zu kaufen.

Eubilides stiess einen irren Schrei aus und brach mit Schaum vor dem Mund zusammen.

Als sich die Menge wieder dem Redner zuwenden wollte, war er durch Zauber verschwunden. Und jeder, der ihn nicht mehr sehen konnte, erkannte ihn.


 

Epilog: Brauchen wir Sprachverbote?

Einige Philosophen mit einem gewissen Hang zur Macht, den sie vielleicht von den griechischen Sklavenbesitzern erbten, versuchten das Kreterparadoxon aus der Welt zu schaffen, indem sie sogenannt selbstbezügliche Sätze explizit verboten. Vielleicht sollten wir uns nochmals überlegen, inwiefern es selbstbezügliche Sätze überhaupt gibt.

Was Epimenides, der als Papagei fungiert und sich deshalb um den Sinn der Sätze gar nicht kümmern kann, von sich gibt, sind keine Sätze, sondern Laute, die man allerdings anhand einer Grammatik, die das sprechende Subjekt ausblendet, nicht von Sätzen unterscheiden kann, die in der entsprechenden Sprache zulässig sind. Natürlich finden wir einen konditionierten Papagei, der 'sagt': "Alle Papageien lügen" sowenig paradox wie eine von Eubulides getrillte kretische Maschine, die 'sagen' würde: "Alle kretischen Maschinen lügen".

Soweit gehen allerdings, dass wir Ausdrücke, die uns einen Moment lang verwirren, verbieten, sollten wir aus ethischen Gründen nicht. Solange wir durch die paradoxen Zaubereien keinen Schaden erleiden, soll jeder sagen (dürfen), was er will. Gute Solipsisten imaginieren sich Mitmenschen, die Sätze wie "Ich lüge" gerne hören, weil sie mit Paradoxien leben wollen. Und ich kenne ganz viele Menschen, die wirklich gerne in den Zirkus gehen, auch oder gerade weil dort gelogen und gezaubert wird.

Heinz von Foerster postulierte im Zusammenhang mit seiner impliziten Ethik ein hermeneutisches Prinzip: Der Hörer - nicht der Sprecher - bestimmt die Bedeutung einer Aussage. Ich will dieses hermeneutische Prinzip durch das konstruktive Beobachter-Prinzip erweitern: Der Hörer bestimmt, ob das, was er hört eine bewusst gesprochene Aussage oder ein anweisend veranlasstes Geräusch ist.

Wenn ich den Satz "Ich lüge" höre, entscheide ich mich immer für letzteres. Und Sie?