Als Staatsverschuldung bezeichne ich Prozesse, in welchen Staaten Schulden machen und tautologischerweise die Schulden des Staates, aber hauptsächlich eine statistische Kennzahl, die auf obskuren Konzepten der politischen Ökonomie beruht, da weder die Aktiven des Staates noch dessen Forderungen an Dritte verrechnet werden. Bei aller Unschärfe handelt es sich um Darlehen, die der Staat - beispielsweise in Form von Staatsanleihen aufnimmt.
Als Staat gilt in dieser Vorstellung - in welcher Schulden gemacht werden - eine juristische Person, die den Staatshaushalt führt, also Steuern erhebt und politisch definierte Ausgaben tätigt. In vielen Staaten (in kapitalistichen Republiken) werden Staatsanleihen bei der jeweils eigenen Nationlabank aufgenommen. Das sind sehr spezielle Schulden, deren Sinn mir nicht klar ist.
Nach Eurostat (ein Amt für Statistiken, sic) ist der öffentliche Schuldenstand im Vertrag von Maastricht definiert als Brutto-Gesamtschuldenstand des gesamten Staatssektors zum Nominalwert am Jahresende nach Konsolidierung, also Verrechnung von Forderungen und Verbindlichkeiten innerhalb des Staatssektors. Der Staatssektor umfasst Zentralstaat und Extrahaushalte, Länder, Gemeinden und Sozialversicherung.
siehe auch Staatsbankrott, Finanzstaatismus, Finanzierungsstaat, Staatshaushalt, Haushalt, ...
Kapital, MEW23
Das System des öffentlichen Kredits, d.h. der Staatsschulden, dessen Ursprünge wir in Genua und Venedig schon im Mittelalter entdecken, nahm Besitz von ganz Europa während der Manufakturperiode. Das Kolonialsystem mit seinem Seehandel und seinen Handelskriegen diente ihm als Treibhaus. So setzte es sich zuerst in Holland fest. Die Staatsschuld, d.h. die Veräußerung des Staats - ob despotisch, konstitutionell oder republikanisch - drückt der kapitalistischen Ära ihren Stempel auf. Der einzige Teil des sogenannten Nationalreichtums, der wirklich in den Gesamtbesitz der modernen Völker eingeht, ist - ihre Staatsschuld.(243a) Daher ganz konsequent die moderne Doktrin, daß ein Volk um so reicher wird, je tiefer es sich verschuldet. Der öffentliche Kredit wird zum Credo des Kapitals. Und mit dem Entstehen der Staatsverschuldung tritt an die Stelle der Sünde gegen den heiligen Geist, für die keine Verzeihung ist, der Treubruch an der Staatsschuld.
(243a) William Cobbett bemerkt, daß in England alle öffentlichen Anstalten als "königliche" bezeichnet werden, zum Ersatz dafür gab es jedoch die "National"-Schuld (national debt). (Kapital, MEW23, S. 782)
Die öffentliche Schuld wird einer der energischsten Hebel der ursprünglichen Akkumulation. Wie mit dem Schlag der Wünschelrute begabt sie das unproduktive Geld mit Zeugungskraft und verwandelt es so in Kapital, ohne daß es dazu nötig hätte, sich der von industrieller und selbst wucherischer Anlage unzertrennlichen Mühwaltung und Gefahr auszusetzen. Die Staatsgläubiger geben in Wirklichkeit nichts, denn die geliehene Summe wird in öffentliche leicht übertragbare Schuldscheine verwandelt, die in <783> ihren Händen fortfungieren, ganz als wären sie ebensoviel Bargeld. Aber auch abgesehn von der so geschaffnen Klasse müßiger Rentner und von dem improvisierten Reichtum der zwischen Regierung und Nation die Mittler spielenden Finanziers - wie auch von dem der Steuerpächter, Kaufleute, Privatfabrikanten, denen ein gut Stück jeder Staatsanleihe den Dienst eines vom Himmel gefallenen Kapitals leistet - hat die Staatsschuld die Aktiengesellschaften, den Handel mit negoziablen Effekten aller Art, die Agiotage emporgebracht, in einem Wort: das Börsenspiel und die moderne Bankokratie.
Von ihrer Geburt an waren die mit nationalen Titeln aufgestutzten großen Banken nur Gesellschaften von Privatspekulanten, die sich den Regierungen an die Seite stellten und, dank den erhaltnen Privilegien, ihnen Geld vorzuschießen imstande waren. Daher hat die Akkumulation der Staatsschuld keinen unfehlbareren Gradmesser als das sukzessive Steigen der Aktien dieser Banken, deren volle Entfaltung von der Gründung der Bank von England datiert (1694). Die Bank von England begann damit, der Regierung ihr Geld zu 8% zu verleihen; gleichzeitig war sie vom Parlament ermächtigt, aus demselben Kapital Geld zu münzen, indem sie es dem Publikum nochmals in Form von Banknoten lieh. Sie durfte mit diesen Noten Wechsel diskontieren, Waren beleihen und edle Metalle einkaufen. Es dauerte nicht lange, so wurde dies von ihr selbst fabrizierte Kreditgeld die Münze, worin die Bank von England dem Staat Anleihen machte und für Rechnung des Staats die Zinsen der öffentlichen Schuld bezahlte. Nicht genug, daß sie mit einer Hand gab, um mit der andern mehr zurückzuempfangen; sie blieb auch, während sie empfing, ewige Gläubigerin der Nation bis zum letzten gegebnen Heller. Allmählich wurde sie der unvermeidliche Behälter der Metallschätze des Landes und das Gravitationszentrum des gesamten Handelskredits. Um dieselbe Zeit, wo man in England aufhörte, Hexen zu verbrennen, fing man dort an, Banknotenfälscher zu hängen. Welchen Effekt auf die Zeitgenossen das plötzliche Auftauchen dieser Brut von Bankokraten, Finanziers, Rentiers, Maklern, Stockjobbers und Börsenwölfen machte, beweisen die Schriften jener Zeit, z.B. Bolingbrokes.(243b)
Mit den Staatsschulden entstand ein internationales Kreditsystem, das häufig eine der Quellen der ursprünglichen Akkumulation bei diesem oder jenem Volk versteckt. So bilden die Gemeinheiten des venetianischen Raub- <784> systems eine solche verborgne Grundlage des Kapitalreichtums von Holland, dem das verfallende Venedig große Geldsummen lieh. Ebenso verhält es sich zwischen Holland und England. Schon im Anfang des 18. Jahrhunderts sind die Manufakturen Hollands weit überflügelt und hat es aufgehört, herrschende Handels- und Industrienation zu sein. Eins seiner Hauptgeschäfte von 1701-1776 wird daher das Ausleihen ungeheurer Kapitalien, speziell an seinen mächtigen Konkurrenten England. Ähnliches gilt heute zwischen England und den Vereinigten Staaten. Manch Kapital, das heute in den Vereinigten Staaten ohne Geburtsschein auftritt, ist erst gestern in England kapitalisiertes Kinderblut.
Da die Staatsschuld ihren Rückhalt in den Staatseinkünften hat, die die jährlichen Zins- usw. Zahlungen decken müssen, so wurde das moderne Steuersystem notwendige Ergänzung des Systems der Nationalanleihen. Die Anleihen befähigen die Regierung, außerordentliche Ausgaben zu bestreiten, ohne daß der Steuerzahler es sofort fühlt, aber sie erfordern doch für die Folge erhöhte Steuern. Andrerseits zwingt die durch Anhäufung nacheinander kontrahierter Schulden verursachte Steuererhöhung die Regierung, bei neuen außerordentlichen Ausgaben stets neue Anleihen aufzunehmen. Die moderne Fiskalität, deren Drehungsachse die Steuern auf die notwendigsten Lebensmittel (also deren Verteuerung) bilden, trägt daher in sich selbst den Keim automatischer Progression. Die Überbesteuerung ist nicht ein Zwischenfall, sondern vielmehr Prinzip. In Holland, wo dies System zuerst inauguriert, hat daher der große Patriot de Witt es in seinen Maximen gefeiert als das beste System, um den Lohnarbeiter unterwürfig, frugal, fleißig und ... mit Arbeit überladen zu machen. Der zerstörende Einfluß, den es auf die Lage der Lohnarbeiter ausübt, geht uns hier jedoch weniger an als die durch es bedingte gewaltsame Expropriation des Bauern, des Handwerkers, kurz aller Bestandteile der kleinen Mittelklasse. Darüber bestehn keine zwei Meinungen, selbst nicht bei den bürgerlichen Ökonomen. Verstärkt wird seine expropriierende Wirksamkeit noch durch das Protektionssystem, das einer seiner integrierenden Teile ist.
Der große Anteil an der Kapitalisation des Reichtums und der Expropriation der Massen, der auf die öffentliche Schuld und das ihr entsprechende Fiskalitätssystem fällt, hat eine Menge Schriftsteller, wie Cobbett, Doubleday und andre, dahin geführt, mit Unrecht hierin die Grundursache des Elends der modernen Völker zu suchen.
Das Protektionssystem war ein Kunstmittel, Fabrikanten zu fabrizieren, unabhängige Arbeiter zu expropriieren, die nationalen Produktions- und Lebensmittel zu kapitalisieren, den Übergang aus der altertümlichen in die <785> moderne Produktionsweise gewaltsam abzukürzen. Die europäischen Staaten rissen sich um das Patent dieser Erfindung, und einmal in den Dienst der Plusmacher eingetreten, brandschatzten sie zu jenem Behuf nicht nur das eigne Volk, indirekt durch Schutzzölle, direkt durch Exportprämien usw. In den abhängigen Nebenlanden wurde alle Industrie gewaltsam ausgerodet, wie z. B. die irische Wollmanufaktur durch England. Auf dem europäischen Kontinent ward nach Colberts Vorgang der Prozeß noch sehr vereinfacht. Das ursprüngliche Kapital des Industriellen fließt hier zum Teil direkt aus dem Staatsschatz.
"Warum", ruft Mirabeau, "so weit die Ursache des Manufakturglanzes Sachsens vor dem Siebenjährigen Krieg suchen gehn? 180 Millionen Staatsschulden!"(244)
Kolonialsystem, Staatsschulden, Steuerwucht, Protektion, Handelskriege usw., diese Sprößlinge der eigentlichen Manufakturperiode, schwellen riesenhaft während der Kinderperiode der großen Industrie. Die Geburt der letztren wird gefeiert durch den großen herodischen Kinderraub. Wie die königliche Flotte, rekrutieren sich die Fabriken vermittelst der Presse. So blasiert Sir F. M. Eden ist über die Greuel der Expropriation des Landvolks von Grund und Boden seit dem letzten Drittel des 15. Jahrhunderts bis zu seiner Zeit, dem Ende des 18. Jahrhunderts, so selbstgefällig er gratuliert zu diesem Prozeß, "notwendig", um die kapitalistische Agrikultur und "das wahre Verhältnis von Ackerland und Viehweide herzustellen", beweist er dagegen nicht dieselbe ökonomische Einsicht in die Notwendigkeit des Kinderraubs und der Kindersklaverei für die Verwandlung des Manufakturbetriebs in den Fabrikbetrieb und die Herstellung des wahren Verhältnisses von Kapital und Arbeitskraft. Er sagt:
"Es mag vielleicht der Erwägung des Publikums wert sein, ob irgendeine Manufaktur, die zu ihrer erfolgreichen Ausführung Cottages und Workhouses von armen Kindern ausplündern muß, damit sie, truppweis sich ablösend, den größten Teil der Nacht durch abgerackert und der Ruhe beraubt werden; eine Manufaktur, die außerdem Haufen beiderlei Geschlechts, von verschiednen Altersstufen und Neigungen, so zusammenhudelt, daß die Ansteckung des Beispiels zu Verworfenheit und Liederlichkeit führen muß - ob solch eine Manufaktur die Summe des nationalen und individuellen Glücks vermehren kann?"(245) "In Derbyshire, Nottinghamshire und besonders Lancashire", sagt Fielden, "wurde die jüngst erfundne Maschinerie angewandt in großen <786> Fabriken, dicht bei Strömen, fähig, das Wasserrad zu drehn. Tausende von Händen waren plötzlich erheischt an diesen Plätzen, fern von den Städten; und Lancashire namentlich, bis zu jener Zeit vergleichungsweis dünn bevölkert und unfruchtbar, bedurfte jetzt vor allem einer Population. Die kleinen und flinken Finger waren vor allem in Requisition. Sofort sprang die Gewohnheit auf, Lehrlinge (!) aus den verschiednen Pfarrei-Workhouses von London, Birmingham und sonstwo zu beziehn. Viele, viele Tausende dieser kleinen hilflosen Kreaturen, vom 7. bis zum 13. oder 14. Jahr, wurden so nach dem Norden spediert. Es war die Gewohnheit für den Meister" (d.h. den Kinderdieb), "seine Lehrlinge zu kleiden, nähren und logieren in einem Lehrlingshaus nah bei der Fabrik. Aufseher wurden bestellt, um ihre Arbeit zu überwachen. Es war das Interesse dieser Sklaventreiber, die Kinder aufs äußerste abzuarbeiten, denn ihre Zahlung stand im Verhältnis zum Produktenquantum, das aus dem Kind erpreßt werden konnte. Grausamkeit war natürliche Folge ... In vielen Fabrikdistrikten, besonders Lancashires, wurden die herzzereißendsten Torturen verübt an diesen harmlosen und freundlosen Kreaturen, die den Fabrikherrn konsigniert waren. Sie wurden zu Tod gehetzt durch Arbeitsexzesse ... sie wurden gepeitscht, gekettet und gefoltert mit dem ausgesuchtesten Raffinement von Grausamkeit; sie wurden in vielen Fällen bis auf die Knochen ausgehungert, während die Peitsche sie an der Arbeit hielt ... Ja, in einigen Fällen wurden sie zum Selbstmord getrieben! ... Die schönen und romantischen Täler von Derbyshire, Nottinghamshire und Lancashire, abgeschlossen vom öffentlichen Auge, wurden grause Einöden von Tortur und - oft von Mord! ... Die Profite der Fabrikanten waren enorm. Das wetzte nur ihren Werwolfsheißhunger. Sie begannen die Praxis der Nachtarbeit, d.h. nachdem sie eine Gruppe Hände durch das Tagwerk gelähmt, hielten sie eine andre Gruppe für das Nachtwerk bereit; die Tagesgruppe wanderte in die Betten, welche die Nachtgruppe grade verlassen hatte und vice versa. Es ist Volksüberlieferung in Lancashire, daß die Betten nie abkühlten."(246)
Mit der allgemeinen Profitrate bildet sich auch ein herrschender Zinssatz heraus. Regelmäßige Einkünfte können zu diesem Zinssatz „kapitalisiert“ (vgl. Kapitalwert) werden. Es wird berechnet, welches Kapital zu diesem herrschenden Zinssatz denselben Einkommensstrom erzeugt. Diesem Kapital steht jedoch nicht unmittelbar „wirkliches Kapital“ gegenüber, bei Staatsanleihen z. B. oft nicht, bei Unternehmen gibt es zwar wirkliches Kapital, jedoch steht der Wert z. B. von Aktien oder Unternehmensanleihen nur in einem lockeren Verhältnis zum wirklichen Kapital der Unternehmen (deren Produktionsanlagen). Dieses Kapital wird von Marx als „fiktives Kapital“ bezeichnet, das neben dem wirklichen Kapital existiert. Marx erwähnt auch die Auffassung einiger zeitgenössischer Ökonomen, wonach auch der Arbeitslohn als Einkommensstrom kapitalisiert werden kann. Es lässt sich ein Kapitalwert errechnen, der zum herrschenden Zinssatz einen dem Lohn entsprechenden Einkommensstrom erzeugen würde. Marx kritisiert diese Betrachtungsweise, nach welcher die Arbeiter ebenfalls eine Art von Kapitalisten wären.
Kapital, MEW23, S. 783-6