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Derrida, Jacques: Der ununterbrochene Dialog (mit Gadamer), Suhrkamp, 2004

[ Volltext ]


Der unterbrochene, aber ununterbrochene Dialog

Über Hans-Georg Gadamer

Kann ich hier vor Ihnen meine Bewunderung fÜr Hans-Georg Gadamer überhaupt angemessen und wahrheitsgetreu wiedergeben? Sie ist vor so langer Zeit aus Respekt und Zuneigung zu ihm entstanden, und in sie mischt sich dunkel eine uralte Melancholie.

Diese Melancholie hat, so würde ich sagen, nicht nur historische Gründe. Denn selbst wenn es ein solches Ereignis gäbe, an dem man sie festmachen könnte, so bliebe es noch schwer zu entziffern, und die Art und Weise, wie es in ihr widerhallt, wäre immer noch einzigartig, intim, fast privat und geheim, noch zurückhaltend. Dort wo sie anhebt, zielt sie nicht immer ins Epizentrum jener Erschütterungen, die meine Generation mehr aus ihren Wirkungen denn aus ihren Ursachen, verspätet, indirekt und vermittelt wahrgenommen hat. Ihr grosser Zeitzeuge ist Gadamer, er ist ihr Philosoph. Das gilt nicht nur für Deutschland. Jedes Mal, wenn wir miteinander gesprochen haben, übrigens immer auf Französisch, mehr als einmal hier in Heidelberg, oft auch in Paris oder in Italien, hatte ich bei allem, was er mir in herzlicher Freundschaft anvertraut hat - einer Freundschaft, durch die ich mich geehrt, mehr noch gerührt und bestärkt fühlen durfte -, den Eindruck, ein Jahrhundert deutschen Denkens, deutscher Philosophie und Politik besser zu verstehen. Und dies gilt wiederum nicht nur für deutsches Denken, deutsche Philosophie und Politik.

ANFANG, UNTERBRECHUNG

Der Tod hat diese Melancholie sicherlich verändert, durch ihn lastet sie unendlich schwerer. Der Tod hat sie besiegelt. Für immer. Es fällt mir aber dennoch schwer, zu unterscheiden, unter diesem starr gewordenen, versteinerten Siegel, in dieser schwer zu lesenden, aber auch irgendwie gesegneten Unterschrift, inwiefern sie auf den Tod des Freundes zurückgeht oder ihm schon so lange vorangegangen ist. Schon bei unserer ersten Begegnung in Paris 1981 muss mich diese Melancholie, eine andere damals und doch dieselbe, befallen haben. Unsere Diskussion konnte wohl nur mit einer merkwürdigen Unterbrechung beginnen, die nicht etwa ein Missverständnis war, sondern eine Art Sprachlosigkeit, eine Hemmung des noch Unentschiedenen. Und eher die Geduld einer unbestimmten Erwartung, einer Epoché, die den Atem anhält, das Urteil zurückhält und sich die Schlussfolgerung aufbehält.

Da stand ich, mit offenem Mund, sprachlos. Ich sprach kaum mit ihm, und was ich damals sagte, richtete sich nur indirekt an ihn. Und doch war ich mir sicher, dass wir von nun an auf eine merkwürdige, aber innige Weise etwas teilen würden. Vielleicht eine Teilhaberschaft. Damals schon hatte ich eine Vorahnung: Was Gadamer wahrscheinlich einen «inneren Dialog» genannt hätte, sollte in jedem von uns weitergeführt werden, manchmal wortlos, unmittelbar in uns oder indirekt. [. . .]

Wenn ich hier von einem Dialog spreche, verwende ich ein Wort, das meinem Sprachgebrauch zugegebenermassen fremd bleiben wird, und zwar aus tausenderlei Gründen, guten und schlechten, deren nähere Erläuterung ich Ihnen hier erspare. Dieses Wort bleibt mir fremd wie eine Fremdsprache, deren Gebrauch ein besorgtes und umsichtiges Übersetzen erforderte. Wenn es dann darum geht, genau zu sagen, was «innerer Dialog» heisst, bin ich froh, dass ich Gadamer schon in mir habe sprechen lassen. Ich übernehme von ihm, und zwar wortwörtlich, was er kurz nach unserer ersten Begegnung gesagt hat, zum Schluss seines Textes «Destruktion und Dekonstruktion»: «Vollends das Gespräch, das wir in unserem eigenen Denken weiterführen und das sich vielleicht in unseren Tagen um neue grosse Partner aus einem sich planetarisch erweiternden Menschheitserbe bereichert, sollte überall seinen Partner suchen - und insbesondere wenn er ein ganz anderer ist. Wer mir Dekonstruktion ans Herz legt und auf Differenz besteht, steht am Anfang eines Gespräches, nicht an seinem Ziele.» (Hervorhebung J. D.)

Was macht diese Begegnung heute noch so unheimlich, nachdem sie in den Augen vieler geradezu misslungen war, sich aus meiner Sicht aber eben dadurch als glückliche Fügung, wenn nicht gar als Erfolg erweisen sollte? Ihr Scheitern geriet so erfolgreich, dass sie eine lebendige und provozierende Spur hinterliess, der eine grössere Zukunft beschieden sein sollte als einem Dialog voll Harmonie und Einverständnis.

Diese Erfahrung nenne ich unheimlich, und zwar auf Deutsch. Im Französischen habe ich keine Entsprechung, die dieses Gefühl mit einem Wort beschreiben könnte. Im Laufe dieser einmaligen und damit unersetzlichen Begegnung schlich sich eine einzigartige Fremdheit ein und verschmolz mit dieser innigen und verstörenden Nähe, die manchmal beunruhigend, beinahe gespenstisch war. Dieses unübersetzbare deutsche Wort, unheimlich, gebrauche ich noch einmal jetzt, in dem Augenblick, da ich hier vor Ihnen auf Französisch spreche und Sie auf Deutsch mitlesen können, um unsere gemeinsame Sensibilität für die Grenzen der Übersetzung zu schärfen. Damit möchte ich auch daran erinnern, wie Gadamer selbst das diagnostiziert hat, was viele unserer Freunde ein wenig überstürzt als so etwas wie ein Urmissverständnis gedeutet haben. Er meinte, die Hürden der Übersetzung seien einer der wesentlichen Gründe für jene Unterbrechung gewesen, die doch überraschend kam, damals, 1981.

Sieben Jahre später, es muss kurz nach unserer zweiten öffentlichen Debatte gewesen sein, diskutierten wir hier in Heidelberg zusammen mit Philippe Lacoue-Labarthe und Reiner Wiehl über Heideggers politisches Engagement. Damals, gleich am Anfang von «Dekonstruktion und Hermeneutik», sah Gadamer in den Sprachgrenzen den Ort, an dem uns die Übersetzung herausfordert und stets die Gefahr des Missverständnisses droht: «Das Gespräch zwischen selbständigen Fortführern Heidegger'scher Anstösse, das meine Pariser Begegnung mit Derrida vor einigen Jahren sein wollte, hatte es mit besonderen Erschwerungen zu tun. Da ist vor allem die Sprachbarriere. Sie wird immer dann gross, wenn Denken oder Dichten Traditionsformen zu verlassen strebt und aus der eigenen Muttersprache neue Weisungen herauszuhören trachtet.»

INNERER DIALOG

Gadamer spricht also lieber von «Denken oder Dichten» als von Wissenschaft und Philosophie. Dies ist kein Zufall, und daran gälte es heute anzuknüpfen. In einem Aufsatz mit dem Titel «Die Grenzen der Sprache» (1984), der dem soeben zitierten von 1988 vorausging und also noch näher an unserem ersten Treffen (1981) liegt, betonte er noch einmal ausdrücklich, dass die Frage der Übersetzung eng mit der dichterischen Erfahrung verbunden ist. Das Gedicht ist nicht nur das beste Beispiel dafür, dass etwas unübersetzbar ist, es ist der eigenste, am wenigsten uneigene Ort der Herausforderung für eine jede Übersetzung. Das Gedicht zeigt wahrscheinlich den einzigen Ort an, an dem sich Sprache erfahren lässt, nämlich in ihren idiomatischen Besonderheiten, die einerseits für immer der Übersetzung widerstehen und deshalb andererseits eine Übersetzung einfordern, der zugemutet wird, das Unmögliche zu leisten, das Unmögliche in einem unerhörten Ereignis möglich zu machen. [. . .]

Ich nehme also einmal an, dass sich das Ganze der Poesie stückweise und schlicht und einfach aus dem ergibt, was wir Kunst oder die schönen Künste nennen, und erinnere auch daran, was Gadamer mehr als einmal, ganz besonders in seiner «Selbstdarstellung», zu diesem Thema sagt. Er unterstreicht die wesentliche Rolle dessen, was er in seiner philosophischen Hermeneutik die «Erfahrung der Kunst» nennt, gegenüber allen anderen Verstehenskünsten, die ihr als Ausgangspunkt dienen. Vergessen wir nicht: «Wahrheit und Methode» beginnt mit einem Kapitel über die «Erfahrung der Kunst», und damit schafft sich Gadamer den Raum für eine «Erfahrung des Kunstwerks», die «jeden subjektiven Horizont der Auslegung, den des Künstlers wie den des Aufnehmenden, grundsätzlich immer übersteigt». In diesem Horizont der Subjektivität steht das Kunstwerk dem Subjekt nie einfach gegenüber wie ein Objekt. Es gehört zu seinem Werkcharakter, das Subjekt zu affizieren und es zu verändern, angefangen bei dem, der unterzeichnet. Gadamer schlägt vor, die zuvor angenommene Ordnung durch eine paradoxe Formel umzukehren: «Das ‹Subjekt› der Erfahrung der Kunst, das, was bleibt und beharrt, ist nicht die Subjektivität dessen, der sie erfährt. Sondern das Kunstwerk selbst.»

Diese souveräne Autorität des Werkes, die beispielsweise das Gedicht zum erteilten Befehl und zum Diktum eines Diktats macht, ist aber auch die Aufforderung zur verantwortlichen Antwort und zum Gespräch. Sie erkennen hier den Titel eines Werkes wieder, das Gadamer 1990 veröffentlichte: «Gedicht und Gespräch».

Ich weiss nicht, ob ich das Recht habe, ohne Anmassung von einem Dialog zwischen mir und Gadamer zu sprechen. Sollte ich aber doch Anspruch darauf erheben dürfen, wie gering er auch sein mag, so würde ich ein weiteres Mal darauf bestehen, dass dieser Dialog zunächst ein innerer und unheimlicher war. Das Geheimnis, das dieser Unheimlichkeit auch hier und jetzt zugrunde liegt, ergibt sich gerade daraus, dass dieser innere Dialog wohl jene Tradition am Leben, lebendig und glücklich erhalten hat, die ihn äusserlich aufzuheben schien - besonders in der Öffentlichkeit. Dieses Gespräch, davon gehe ich einmal aus, hat tief im Inneren die Erinnerung an jenes Missverständnis mit einer bemerkenswerten Beständigkeit bewahrt, ohne sich je nach aussen zu verschliessen. Es hat den verborgenen Sinn jener Unterbrechung ununterbrochen kultiviert und gerettet, verschwiegen oder auch nicht - für mich meistens innerlich und nach aussen hin stumm.

Man spricht oft und ein bisschen leichtfertig von einem inneren Monolog. Indes geht ihm ein innerer Dialog voraus und macht ihn erst möglich. Er leitet und führt ihn, indem er ihn aufspaltet und bereichert. Mein innerer Dialog mit Gadamer, mit Gadamer selbst, mit dem lebenden, noch immer lebenden Gadamer, wenn ich so sagen darf, sollte seit unserem ersten Treffen in Paris nie unterbrochen werden.

Wahrscheinlich beruhte diese Melancholie, wie immer bei einer Freundschaft (zumindest empfinde ich es jedes Mal so), auf einer traurigen und erschütternden Gewissheit: Eines Tages wird der Tod uns trennen. Das ist das schicksalhafte und unabwendbare Gesetz: Von zwei Freunden wird der eine den anderen sterben sehen. Und so virtuell dieser Dialog auch sein mag, er wird durch eine letzte Unterbrechung doch für immer versehrt bleiben. Unvergleichlich ist diese Trennung zwischen Leben und Tod, sie drückt dem Gespräch ein Siegel auf, das von nun an das Denken vor ein erstes Rätsel stellen wird, das wir zu entziffern versuchen, unendlich. Der Dialog geht wahrscheinlich weiter, seine Spur setzt sich im Überlebenden fort. Jener glaubt den anderen in sich zu bewahren, wie er es schon zu seinen Lebzeiten tat; künftig wird er ihn in sich sprechen lassen. Vielleicht gelingt ihm dies besser denn je - eine erschreckende Annahme. Doch der Einschnitt ist da und ins Überleben unauslöschlich eingezeichnet. Mehr und mehr werden die Unterbrechungen, die eine steckt die andere an, sie spiegeln sich bis in unendliche Abgründe, unheimlicher denn je.

MELANCHOLISCHE GEWISSHEIT

Aber warum muss man eigentlich so viel Wert auf diese Unterbrechung legen? Und was ist es in meiner Erinnerung, das mein Gedenken heute so nachhaltig verstört? Eh bien, es liegt wohl an all dem, was gesagt wurde, geschah oder sich ereignete seit jener letzten von drei Fragen, die ich Gadamer 1981 in Paris zu stellen wagte. Diese Frage bedeutete sowohl die Herausforderung, ja vielleicht gar die Bestätigung des Missverständnisses, eine scheinbare Unterbrechung des Dialogs, wie auch andererseits den Beginn eines inneren Dialogs in jedem von uns beiden, eines virtuell unendlichen und quasi kontinuierlichen Dialogs. Tatsächlich, es war so, ich forderte eine gewisse Unterbrechung geradezu heraus. Aber weit davon entfernt, damit den Dialog zum Scheitern zu verurteilen, konnte diese Unterbrechung ebenso die Voraussetzung für Verstehen und Einvernehmen werden.

Erlauben Sie mir ausnahmsweise, diese Frage in Erinnerung zu rufen. Sie war die dritte und letzte aus einer Reihe von Fragen zum guten Willen im Streben nach Konsens sowie zur schwierigen Eingliederung einer psychoanalytischen Hermeneutik in eine allgemeine Hermeneutik: «Dritte Frage: Auch diese geht auf die Axiomatik des guten Willens. Mögen nun psychoanalytische Hintergedanken mit im Spiele sein oder nicht, so ist doch die Frage berechtigt, was es mit dieser axiomatischen Bedingung des Interpretationsdiskurses auf sich hat, mit dem, was Professor Gadamer ‹verstehen›, ‹verstehen des anderen›, ‹sich miteinander verstehen› nennt. Ob man nun von der Verständigung oder vom Missverständnis (Schleiermacher) ausgeht, immer muss man sich doch fragen, ob die Bedingung des Verstehens, weit entfernt davon, ein sich kontinuierlich entfaltender Bezug zu sein (wie es gestern Abend hiess), nicht doch eher der Bruch des Bezuges ist, der Bruch als Bezug gewissermassen, eine Aufhebung aller Vermittlung.»

Die melancholische Gewissheit, von der ich hier rede, beginnt also wie immer bereits zu Lebzeiten der Freunde. Nicht nur durch eine Unterbrechung, sondern durch ein Wort der Unterbrechung. Ein cogito des Adieu, dieses endgültigen Grusses, zeichnet den Atem selbst des Dialoges, eines Dialoges in der Welt oder eines innersten Dialoges. Die Trauer wartet nicht mehr. Seit dieser ersten Begegnung kommt diese Unterbrechung dem Tod zuvor, sie geht ihm voran und hüllt einen jeden in die Trauer einer unerbittlichen zukünftigen Vergangenheit. Einer von uns beiden wird alleine zurückgeblieben sein, wir wussten es beide im Voraus. Und immer schon. Einer von uns beiden wird von Anfang an dazu verurteilt gewesen sein, ganz alleine, in sich, sowohl den Dialog, den er über die Unterbrechung hinweg fortsetzen muss, als auch die Erinnerung an die erste Unterbrechung weiterzutragen. Und, so werde ich sagen, ohne es mir mit einer Übertreibung leicht zu machen, die ganze Welt des anderen. Die Welt nach dem Ende der Welt.

Denn der Tod ist, jedes Mal, und jedes Mal einzigartig, jedes Mal unwiederbringlich, jedes Mal unendlich, nicht weniger als ein Ende der Welt. Nicht nur ein Ende unter anderen, das Ende einer Person oder einer Sache in der Welt, das Ende eines Lebens oder eines Lebewesens. Der Tod bereitet nicht nur jemandem in der Welt ein Ende, auch nicht nur einer Welt unter anderen; vielmehr zeigt er jedes Mal, der Rechenkunst zum Trotz, das absolute Ende jener einen und selben Welt, desjenigen, was ein jeder wie eine einzige und selbe Welt eröffnet; er zeigt das Ende der einzigartigen Welt, das Ende der Gesamtheit dessen, was der Ursprung der Welt für ein solches einzigartiges Lebewesen ist (sei es nun ein Mensch oder nicht) oder als solcher erscheinen kann.

Der Überlebende bleibt also allein. Jenseits der Welt des anderen ist er auch auf gewisse Weise jenseits oder diesseits der Welt selbst. In der Welt ausserhalb der Welt und der Welt beraubt. Er fühlt sich zumindest allein verantwortlich, dazu bestimmt, sowohl den anderen als auch dessen Welt weiterzutragen, den verschwundenen anderen und die verschwundene Welt, verantwortlich und weltlos, weltbodenlos, künftig in einer weltlosen Welt, als wäre er erdenlos jenseits des Weltendes.

Aus dem Französischen von Martin Gessmann, Christine Ott und Felix Wiesler.

Neue Zürcher Zeitung, Ressort Literatur und Kunst, 22. Februar 2003, Nr.44, Seite 69 [ ]