Lotter, Wolf: Was zählt (über Geld): In: Brandeins
Der Text ist ein Sammelsurium aller gängisten Geldideen
Zu Beginn des 20. Jahrhunderts hat der Soziologe Georg Simmel in seiner „Philosophie des Geldes“ darauf hingewiesen, wie wichtig das Geld für die Entstehung und Entwicklung derjenigen Berufsklassen war, deren Produktivität sich inhaltlich ganz jenseits jeder wirtschaftlichen Bewegung stellt – „die der spezifisch geistigen Tätigkeiten, der Lehrer und Literaten, der Künstler und Ärzte, der Gelehrten und Regierungsbeamten“. Dem Geld verdankt Europa den Aufbruch in die Neuzeit. Von Italien und den Hansestädten aus hatte sich im 12. und 13. Jahrhundert allmählich ein selbstbewusstes Bürgertum entwickelt, dessen wichtigste Waffe das Geld war. Und dieses Geld veränderte dabei seinen Charakter. Es wurde von einem nützlichen Werkzeug zu einer „sozialen Technologie“, wie es der Ökonom und Autor Felix Martin nannte. Um das Jahr 1200 verbreitete sich von Italien aus der Wechsel, eine Verpflichtungsurkunde, deren Aussteller darin bestätigte, eine bestimmte Menge Geld an einen bestimmten Ort und Empfänger zu bezahlen – oder an einen Dritten, der in der Urkunde benannt worden war. Der Wechsel war also zunächst ein praktisches Zahlungs- und Kreditmittel, dessen entscheidendes technisches Kriterium aber die „Möglichkeit der Übertragung war“, wie Martin festhielt, die „Gesellschaften und Volkswirtschaften revolutioniert“ und ein „System von Guthaben und Schulden“ errichtet hatte, „das sich unaufhörlich ausdehnt und zusammenzieht, wie ein schlagendes Herz, und den Handelsverkehr aufrechterhält“. Das ist der Punkt. Das große Paradox hinter dem Geld ist, dass es ohne den Staat, den Stärkeren und dessen bürokratische Kontrolle nie die Rolle erlangt hätte, die es heute hat. Das Primat der Politik hat das Geld und unseren Blick darauf immer geprägt. Die erfolgreichen Hansestädte verbanden ganz offen Wirtschaft mit Herrschaft. Die frühkapitalistischen Bankiers wie die Augsburger Fugger, noch mehr aber ihre kaiserlichen Partner, haben diesen Zusammenhang ein wenig im Dunkeln gelassen. Der neuzeitliche Staat und seine Verwaltung haben sich das Kapital offen zunutze gemacht. Und wo das Geld in die Krise gerät, ist die Obrigkeit nicht weit. Goldschmiede Der Schweizer Ökonom Mathias Binswanger hat in seinem Buch „Geld aus dem Nichts – Wie Banken Wachstum ermöglichen und Krisen verursachen“ eine vielsagende Geschichte aus diesen Anfängen der kapitalistischen Geldwirtschaft erzählt: Die vermögenden Händler und Bürger der aufstrebenden Kolonialmacht England vertrauten dem Staat in Form des Königs Charles I. ihr Vermögen an, und zwar dort, wo es ihnen am sichersten schien, im Londoner Tower. Doch König Charles I. kassierte das Vermögen 1640 ein, weil er Geld für Söldner für einen Krieg gegen Schottland brauchte. Das Vertrauen war futsch, und das verbliebene Gold der Londoner landete bei Goldschmieden, die es gegen eine kleine Gebühr sicher aufbewahrten und dafür Papierquittungen ausstellten, die sogenannten Goldsmith-Notes. Als Reaktion auf diesen Ärger, so Binswanger, begann „die Transformation der Goldschmiede von Goldausleihern zu Geldproduzenten“. Statt Gold als Kredit zu verleihen, gaben sie gleich Goldsmith-Notes, also Papiergeld, aus. Sie verliehen keine Rücklagen und Ersparnisse mehr, sondern Kredite in Form von Papiergeld. Nun musste man nur noch auf ein Stück Papier die Kreditsumme aufdrucken. Das war das neue Geld, „der Ursprung der modernen Geldwirtschaft“, die die Londoner Goldschmiede zu den „großen Innovatoren der Menschheit“ machte, wie Binswanger schreibt. Die Geschichte des Papiergeldes beginnt mit einem Betrug des Staates an seinen Bürgern, einem Raub mit anhaltender Manipulation. Unser Geldsystem ist das Ergebnis berechtigten Misstrauens in die Machthaber, die sich oft genug am Eigentum der Bürger vergriffen haben und dabei stets auf nützliche Idioten zählen durften. Die finanzielle Revolution ging der industriellen Revolution voraus.“ Es ist ein weiterer Take-off in der Kulturgeschichte, der größte und schnellste bisher. Bis dahin verstand man Wirtschaft als Haushaltsführung. Man verwaltete sein Eigentum, aber man mehrte es selten. Entweder man konsumierte oder man investierte. Nun aber hatte man ein System, mit dem man Werte schaffen konnte, ohne das, was da war, anzutasten. Das neue System machte es möglich zu investieren, ohne vorher zu sparen. Was als Idee zum Schutz des Privateigentums gegen die Willkür der Regierung entstanden war, wurde bald von dieser kontrolliert. Im Jahr 1742 erhielt die staatliche Bank of England, die Nachfolgerin der Münzstätte im Londoner Tower, das Monopol zur Banknotenausgabe. Und schon vorher druckte in Frankreich der Schotte John Law im Auftrag des Staates Unmengen an Papiergeld, um die enormen Staatsschulden loszuwerden. Das gelang zunächst ganz gut, ging aber auf Kosten der Bürger, denen man unglaubliche Profite in den Kolonien versprach, die sich als Hirngespinste entpuppen. Als 1720 die Blase platzte, war das Ancien Régime zwar angeschlagen, überlebte aber noch. Beim nächsten Mal, 70 Jahre später, im Mai 1789, ging die Geldgier des Staates ins Auge. Der König wollte die Steuern erhöhen, weil das Budgetdefizit enorm war, doch er sah sich zur Einberufung der Generalstände gezwungen, womit der kostspielige Absolutismus faktisch am Ende war. Das war der Beginn der Französischen Revolution. Nach dem Geld und der Produktion wurde jetzt auch die Gesellschaft neu formatiert, im Guten wie im Schlechten. Der Rostocker Wirtschaftshistoriker Michael North, Autor des Standardwerkes „Kleine Geschichte des Geldes“,