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Luhmann, Niklas: Das Erkenntnisprogramm des Konstruktivismus und die unbekannt bleibende Realität. In: Soziologische Aufklärung 5. Konstruktivistische Perspektiven, Westdeutscher Verlag: Opladen 1990

Zitate

Ein neuer "radikaler" Konstruktivismus macht von sich reden. Einige aufregende Formulierungen kommen druckfrisch aus der Presse - und schon gilt die Sache als etabliert. So schnell muß es heute gehen.1 Man erfährt etwas über das Eingeschlossensein des Gehirns und über die Autopoiesis des Lebens. Man wird darüber belehrt, daß man nicht sehen kann, was man nicht sehen kann. Man wird über Sachverhalte unterrichtet, die man immer schon gewußt hat - aber in einer Weise, die das Gewußte in ein neues Licht versetzt und neue Anschlußüberlegungen ermöglicht, die viel radikalere Konsequenzen haben als bisher für möglich gehalten wurden. Die Auswirkungen betreffen die Erkenntnistheorie von der philosophischen Epistemologie bis zu den modernen cognitive sciences. Dies ist aber, fast gleichzeitig, nun schon readerreifes Wissen, Tagungsthema und unum~ nglicher Kenntnisstand für jeden, der sich auf dem laufenden halten will.

Schon werden, den Wünschen der Zeitgenossen entsprechend, konstruktivistische Ansätze mit Nutzenaussichten, ja sogar mit einer Ethik der Verantwortung für Resultate assoziiert3 (obwohl dies "Symmetriebrüche" voraussetzen würde, denen gerade diese Theorie ferner steht als jede andere). Zur Zeit verläuft die Expansion mehr epidemisch als epistemisch. Skeptische Beobachter melden sich zu Wort, melden Bedenken an - aber aufgrund veralteter Vorstellungen und eines nicht rasch genug mitziehen-

1 Siehe speziell hierzu in einem allgemeineren Kontext Hermann Lübbe, ZeitVerhältnisse: Zur Kulturgeschichte des Fortschritts, Graz 1983.
2 Vgl. Paul Watzlawick (Hrsg.), Die erfundene Wirklichkeit, München 1981; Heinz Gumin/ Armin Mohler (Hrsg.), Einführung in den Konstruktivismus, München 1985; Siegfried J. Schmidt (Hrsg.), Der Diskurs des radikalen Konstruktivismus, Frankfurt 1987. Ein gutes soziologisches Indiz für Verbreitungsgeschwindigkeit ist im übrigen die Nichtidentität von Autoren und "Herausgebern".
3 So Siegfried J. Schmidt, Der Radikale Konstruktivismus: Ein neues Paradigma im interdisziplinären Denken, in ders. (Hrsg.), a.a.O., S. 11-88 (37 f.). Humberto R. Maturana

den Verständnisses, wie man sofort sieht.4 Und wer nun dies Umschlagtempo beobachtet und feststellt, wie schnell Aufregendes wieder beruhigt und vermarktet wird, "fühlt sich fast ein wenig ins Biedermeier versetzt, in eine nachrevolutionäre Zeit, in der Traditionspflege betrieben wird und in der reibungslos gelingt, was für die Meister ein aufregendes, ein paradoxieträchtiges Unternehmen war".5 Nur ist heute das Biedermeier nicht erst dreißig Jahre nach der Revolution, sondern fast gleichzeitig mit ihr zu beobachten.

Auch Kontroversen des Typs "Konstruktivismus versus Realismus" tragen alle Anzeichen einer übereilten Reaktion.6 Formulierungen der Konstruktivisten bieten einen wohlfeilen Anlaß. Achtet man aber auf ihr Argument, läßt es sich überhaupt nicht antirealistisch verstehen, stützt es sich doch auf Resultate empirischer Forschungen, vor allem neurophysiologischer Forschungen. Immer noch sind die Debatten durch den alten Selbstbegründungsanspruch der Erkenntnistheorie vorstrukturiert. Dann liest man den Konstruktivismus als eine neue Variante des idealistischen Subjektivismus und weist einmal mehr nach, daß eine Selbstbegründung auf dieser Basis nicht gelingen kann. Aber ist das der Punkt - nach Gödel? Oder ist genau das die Prämisse, die der Konstruktivismus zu verabschieden sucht?

Dies ist zunächst nur eine soziologische Beschreibung von Temposchäden im jeweils historischen Kontext der Wissenschaft. Man könnte den Befund genauer analysieren, könnte Vergleichbares finden und all das auf gesellschaftsstrukturelle Ursachen der Beschleunigung von Zeit in der modemen Gesellschaft zurückführen. Die folgenden Überlegungen haben ein anderes Ziel. Sie werden zu prüfen suchen, ob es hier in Fragen der Erkenntnistheorie überhaupt einen Fortschritt gibt und wo er liegen könnte.

Denn auf den ersten Blick kommt einem das, was als "Konstruktivismus" ausgeflaggt wird, nicht gerade unbekannt vor. Die Erkenntnistheorie mag sich, zumindest in einigen ihrer überlieferten Varianten, dadurch bestätigt finden, nicht aber überrascht. Offenbar reagiert die Wissenschaft hiermit auf ihr eigenes Auflösevermögen. Das beginnt schon mit Platon, mit der Reduktion von Alltagserfahrung auf eine bloße Meinung und mit der Frage nach einer dahinterliegenden Realität. Das hat diesen Reflexionsbemühungen zunächst den Namen "Idealismus" eingetragen. In der Neuzeit stellt sich im Blick auf die modeme Wissenschaft mehr und mehr heraus, daß diese "dahinterliegende" Realität die Erkenntnis selber ist. Das

4 Vgl. etwa Danilo Zolo, Autopoiesis: Critica di un paradigma conservatore, MicroMega 1 (1986), S. 129-173; Mary Hesse, Socializzare l'epistemologia, Rassegna Italiana di Sociologia 28 (1987), S. 331-356.
5 So Dirk Baecker in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 6. Mai 1987, S. 11.
6 Siehe zum Beispiel Hans Jürgen Wendel, Wie erfunden ist die Wirklichkeit? Delfin XII (1989), S. 79-89.