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Luhmann, Niklas (1998a): Die Kunst der Gesellschaft. Frankfurt, Suhrkamp-Tb. Wissenschaft (1303), Kartoniert SFr. 27.50, Bestell-Nr. 7955928, ISBN 3-518-28903-9, 517 S. 2. A.

Klappentext:
Unter dem Titel 'Die Kunst der Gesellschaft' setzt dieses Buch eine Reihe von Publikationen fort, die der Ausarbeitung einer Theorie der Gesellschaft dienen. Die Einleitung zu dieser Serie ist unter dem Titel 'Soziale Systeme' 1984 erschienen. Ferner liegen inzwischen vor: 'Die Wirtschaft der Gesellschaft', 'Die Wissenschaft der Gesellschaft' und 'Das Recht der Gesellschaft'. Das Gesamtunternehmen - 'Die Gesellschaft der Gesellschaft' - sucht Distanz zu vorherrschenden Gesellschaftstheorien, die ihren Gegenstandsbereich durch mehr oder weniger normative, jedenfalls integrative Einheitskonzepte zu beschreiben versuchen. Luhmann macht deutlich, warum es sich empfiehlt, die Gesellschaftstheorie umzuschreiben und die Einheit der Gesellschaft nicht in ethisch-politischen Forderungen zu suchen, sondern darin, daß bei extremer Verschiedenheit von Funktionen und Operationsweisen in Systemen - zum Beispiel Religion oder Geldwirtschaft, Wissenschaft oder Kunst, Intimbeziehungen oder Politik - trotzdem vergleichbare Sachverhalte entstehen. Das Theorieangebot ist danach im Kern: Klarheit der Außenabgrenzung und Vergleichbarkeit des Verschiedenen.

Zitate

"Die wahrgenommene Welt ist mithin nichts anderes als die Gesamtheit der "Eigenwerte" neurophysiologischer Operationen. ... Das Gehirn unterdrückt, wenn man so sagen darf, seine Eigenleistung, um die Welt als Welt erscheinen zu lassen. Und nur so ist es möglich, die Differenz zwischen der Welt und dem beobachtenden Bewusstsein in der Welt einzurichten." (S.15)

Die Neuromagie, die das zustandebringt, ist unbekannt. Das laufende Unterscheiden von Selbstreferenz und Fremdreferenz in allen Operationen des Bewußtseinssystems, also als Charakteristikum der Operationsweise dieses Systems, setzt wenn nicht »Sinn«, so doch eine Zeichenstruktur voraus, die dazu zwingt, Bezeichnendes (signifiant) und Bezeichnetes (signifié) im Sinne von Saussure simultan zu prozessieren. (18)

Kunst gewinnt ihre Eigenart daraus, daß sie es ermöglicht, Kommunikation stricto sensu unter Vermeidung von Sprache, also auch unterVermeidung all der an Sprache hängenden Normalitäten durchzuführen. Ihre Formen werden als Mitteilung verstanden, ohne Sprache, ohne Argumentation. Anstelle von Worten und grammatischen Regeln werden Kunstwerke verwendet, um Informationen auf eine Weise mitzuteilen, die verstanden werden kann. (S.39)

"Dieser wichtige Unterschied von Kommunikation durch Kunst und Kommunikation bleibt oft unbeachtet, [...] mit der Folge, daß die Ausdifferenzierung eines autonomen Kunstsystems dann nur als Ausdifferenzierung eines besonderen Themas der Kommunikation über Kunst behandelt wird" (S. 40).

"Als Objekt in den Grenzen eines Dings oder Prozesses genommen, eröffnet das Kunstwerk die Möglichkeit einer Kompaktkommunikation; man kann es als Kunstwerk bezeichnen und gewinnt dadurch eine eindeutige Unterscheidung, mit der man weiterarbeiten kann. Das kann das Ende, aber auch der Anfang einer Kommunikation sein, die sich mit den Unterscheidungen befasst, aus deren Vernetzung das Kunstwerk besteht und die es als Kunstwerk ausweisen. Was die Innenseite der Form Kunstwerk betrifft, kommuniziert die kompaktkommunikation also den Kommunikationsvorbehalt weiterer Analyse. Kompaktkommunikation ist sozusagen Kommunikation auf Kredit, ist Inanspruchnahme von Autorität für weitere Ausführung, sagt also vor allem: es ließe sich zeigen..."(S. 62f).

"Kunstwerke müssen materiell existieren, Künstler müssen atmen können, um Kommunikation durch Kunst zu ermöglichen. Aber die Auflösung dieser strukturellen Kopplungen kann nur verhindernd oder zerstörend wirken, und ihr Fortbestand ist nichts weiter als die Verhinderung der Verhinderung des Fortgangs autopoietischer Reproduktion." (86)

"Sicher kann man auch über den Künstler als Menschen und über Kunstwerke als materielle Artefakte sprechen; und man müsste es tun, wenn der Ehrgeiz auf eine vollständige Objektbeschreibung abzielte. Das hieße aber der Beschreibung eine jeweils andere Systemreferenz zu Grunde zu legen bzw. die Systemreferenzen ständig zu wechseln." (88)

Wir versuchen es daher mit einer formaleren Begrifflichkeit und sprechen, wenn es um Beobachtung zweiter Ordnung gehen soll, zunächst nur von einem Beobachten von Beobachtungen. Wir bleiben damit auf der Ebene von Operationen. Ob es sich dabei um eine Beobachtung von Beobachtern handelt, ist schon eine zweite Frage. Sicher kann es das Beobachten von Beobachtungen erleichtern, wenn man sich dabei an einen Beobachter halten kann, dem diese Beobachtungen zugerechnet werden."(S. 95).

"Eine Welt, die darauf eingerichtet ist, sich selber zu beobachten, zieht sich in die Unbeobachtbarkeit zurück." (S. 96)

„Von Beobachtung zweiter Ordnung wird man nur sprechen können, wenn zwei Beobachtungen sich so aneinander koppeln, dass beide die Merkmale einer Beobachtung erster Ordnung voll realisieren [...] Wir sagen also: ein Beobachten zweiter Ordnung liegt immer dann vor, wenn auf Unterscheidungsgebrauch geachtet wird; oder noch pointierter: wenn das eigene Unterscheiden und Bezeichnen auf weiteres Unterscheiden und Bezeichnen bezogen wird.“ (S. 101)

"Wir sagen also: ein Beobachten zweiter Ordnung liegt immer dann vor, wenn auf Unterscheidungsgebrauch geachtet wird; oder pointierter: wenn das eigene Unterscheiden und Bezeichnen auf weiteres Unterscheiden und Bezeichnen bezogen wird. Beobachten zweiter Ordnung ist ein Unterscheiden von Unterscheidungen - aber nicht so, dass man einfach Unterscheidungen nebeneinanderstellt im Sinne von: es gibt Großes und Kleines, Erfreuliches und Unerfreuliches, Theologen und andere Akademiker und so weiter in endloser Reihe. Vielmehr muss das unterscheidend beobachtete Unterscheiden in seinem operativen Gebrauch beobachtet werden, das heißt mit den Merkmalen, die wir soeben für den Begriff des Beobachtens festgelegt haben - also: Simultaneität des Unterscheidens und Bezeichnens (im Auge Behalten der anderen Seite) und rekursive Vernetzung in einem Vorher und Nachher weiterer Beobachtungen, die ihrerseits wieder Unterscheidende Bezeichnungen sein müssen."(S. 101f)

„Das Beobachten erster Ordnung ist das Bezeichnen - im unerlässlichen Unterschied von allem, was nicht bezeichnet wird.“(S. 102)

Offensichtlich sind hier mehrere Kriterien im Spiel, die einander widersprechen können, und das einzige, was sich sicher ausmachen läßt, ist: daß die Umstellung des Kunstsystems auf einen Primat der Beobachtung zweiter Ordnung das Problem erzeugt, das man dann nicht wieder los wird.
 
"IX.
Als nächstes beschäftigt uns ein Sonderproblem, das in den Bereich der Beobachtung zweiter Ordnung fällt, aber logisch andere Strukturen aufweist. Es geht um die Beobachtung dessen, was andere Beobachter nicht beobachten können. (61) Operativ gesehen weist dieser Fall keine Besonderheiten auf - so wie ja auch die neurophysiologischen Prozesse, das Denken und das Kommunizieren mit Negativversionen sich in der Durchführung nicht von den allgemeinen Formen der entsprechenden Prozesse unterscheiden. Wir brauchen dafür kein besonderes Gehirn, kein besonderes Bewußtsein, keine zweite Sprache. Für einen Beobachter macht es jedoch einen Unterschied, ob ein anderer Beobachter etwas bejaht oder verneint. Und erst recht gerät man in Zonen unwahrscheinlicher Beobachtung, wenn

FN 61: Anläßlich der mittelalterlichen und frühmodernen Diskussion über »Spiegel« war man in anderer Konstellierung bereits auf diese Möglichkeit des Sehens des Unsichtbaren gestoßen in der Doppelform des Unsichtbarmachens des Sehens und des Sichtbarmachens des für sich selbst unsichtbaren Sehens. Aber dabei ging es nicht um das hier anstehende Problem: zu sehen, was andere nicht sehen können.
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eine Beobachtung zweiter Ordnung sich selbst auf eine Negativversion einstellt und sich dadurch von der beobachteten Beobachtung unterscheidet; nämlich wenn sie darauf aus ist, zu beobachten, was eine andere Beobachtung nicht beobachtet; oder nochmals zugespitzt: wenn sie sich darauf spezialisiert, zu beobachten, was ein anderer Beobachter nicht beobachten kann. In diesem letztgenannten Fall genügt es nicht, Beobachtungen als besondere Weltphänomene zu beobachten. Der Beobachter zweiter Ordnung muß sich vielmehr darauf konzentrieren, einen anderen Beobachter auf seine Beobachtungsinstrumente hin zu beobachten, also die von ihm verwendeten Unterscheidungen zu beobachten, um dann zu sehen, was diese Unterscheidungen als Bedingungen der Möglichkeit des Beobachtens ausschließen. Anders gesagt: in einem solchen Fall wird die Beobachtungsweise des anderen als Einheit, das heißt: als Form betrachtet, die etwas ermöglicht dadurch, daß sie etwas anderes ausschließt. Und ausgeschlossen wird vor allem: die Beobachtung der Einheit der Unterscheidung, die der Beobachtung in der Form des »dies und nichts anderes« zugrundeliegt. Es geht also nicht nur um die räumlichen oder zeitlichen Standortvorteile/- nachteile, die mit einer Drehung oder mit dem Fortschreiten der Zeit geändert werden können. Sondern es geht um das, was dadurch ausgeschlossen ist, daß man der Beobachtung eine (irgendeine!) Unterscheidung zugrundelegen muß.
Schon die Abstraktionslage dieser einführenden Bemerkungen sollte deutlich machen, daß diese auf Latenzen achtende Form der Beobachtung zweiter Ordnung selbst etwas extrem Unwahrscheinliches ist. Im älteren Denken, das noch von der Perfektion der eigenen Natur ausging, war deshalb das Nichtsehenkönnen, die Blindheit schlicht als Imperfektion registriert, als steresis, als corruptio, als Beraubung einer Fähigkeit, die an sich und normalerweise gegeben ist. Schließlich finden wir uns selbst immer schon als Beobachter vor und können davon ausgehen. Erst sehr allmählich avanciert die Negativfassung dessen, womit wir normalerweise operieren, zu einer Reflexionsfigur. Das Nichtsehen wird (anstelle irgendwelcher transzendentaler Kategorien) zur Bedingung der Möglichkeit des Sehens.
Selbst nach einhundertfünfzig Jahren »Ideologiekritik« und nach hundert Jahren »Psychoanalyse« ist es noch nicht gelun-
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gen, diese Möglichkeit in die normale Erkenntnistheorie einzuarbeiten oder auch nur: als deren Erweiterung zu verstehen. (62)
Wie eine ausgiebige Diskussion der Wahrheitsansprüche einer »Wissenssoziologie« gezeigt hat (63), führt eine solche Ambition zu Fissuren im Wahrheitskosmos, die nicht mehr überbrückt werden können - nicht durch »Geist« im Sinne Hegels, aber auch nicht durch die in der Logik und der Linguistik übliche Konstruktion von »Metaebenen«. Denn alles, was in dieser Richtung versucht worden ist, muß wiederum Unterscheidungen verwenden, also Beobachtungserfordernisse erfüllen, mit denen das Problem sich wiederholt. Man wird deshalb diese Form der Latenzbeobachtung (wie wir sie abgekürzt nennen wollen) als eine die Welteinheit sprengende bzw. ins Unbeobachtbare verschiebende Distanziertechnik eines Beobachters zweiter Ordnung begreifen müssen, und die Frage ist dann: welche Sozialordnung sich dies leisten, dies erlauben kann.
Vor diesem evolutionstheoretischen Hintergrund ist die Feststellung wichtig, daß die Gesellschaft offenbar die Kunst benutzt hat, um mit dieser Möglichkeit zu spielen, bevor sie in seriösere, weil folgenreichere Bereiche der Religion und des Wissens übernommen werden konnte. Schon die alte Streitbeziehung der Kunst zur Philosophie gibt einen Hinweis. Während die Philosophie mit der Natur und denn Wesen der Dinge befaßt ist, begnügt die Kunst sich mit Erscheinungen. Sie kann, wenn ihr die Aufgabe der Imitation gestellt ist, auf Wesenseinsichten verzichten und sich den Zugang über ein (wie es den Philosophen erscheinen muß: oberflächliches) Beobachten und Duplizieren des Beobachtens verschaffen. Zunächst wird somit die Beobachtung zweiter Ordnung nur im Bereich des Fiktionalen ausprobiert; und nur, wenn hier ausreichende Evidenzen gewonnen werden können und Parallelen zum Normalerleben und -handeln sich aufdrängen, kann man dazu ansetzen, die Einheit des Großen Lebewesens, des sichtbaren Universums, ....

FN 62 Hierzu Niklas Luhmann, Wie lassen sich latente Strukturen beobachten?, in: Paul Watzlawick / Peter Krieg (Hrsg.), Das Auge des Betrachters - Beiträge zum Konstruktivismus: Festschrift für Heinz von Foerster, München 1991 , S. 61 - 74 .
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"Paradoxien sind nichts anderes als Darstellungen der Welt in der Form der Selbstblockierung des Beobachtens. Man kann Kunstwerke, wie gesagt, als paradoxie inszenieren - aber nur, um zu zeigen, daß es so nicht geht; nur um die Unbeobachtbarkeit der Welt zu symbolisieren." (S. 191/192)

"Wer Formen beobachtet, beobachtet mithin Beobachter, und dies in dem strengen Sinne, daß er sich nicht für ihre Materialität, ihre Motive, ihre Erwartungen oder ihre Äußerungen interessiert, sondern streng und ausschließlich für ihren Unterscheidungsgebrauch." (S. 111)

"Wie immer die Akzente gesetzt sind und wie sehr die Aufmerksamkeit zunächst auf figurative oder auf ornamentale Aspekte gelenkt wird, wir müssen im weiteren davon ausgehen, daß die Formen, die mit ihrer Kraft des Unterscheidens ein Kunstwerk bilden, divergieren je nachdem, welches Wahrnehmungs- oder Anschauungsmedium in Anspruch genommen wird.
Es gibt zwischen Malerei und Musik, zwischen Skulptur und Tanz, auch zwischen Lyrik und Roman keine Kommensurabilität - was es nicht ausschließt, daß es »Lautmalerei« in der Musik oder Tänzerinnen als Skulpturen geben kann.
Diese Formendifferenz ist nicht durch Formenwahl bedingt (dann könnte sie vermieden werden), sondern durch das jeweils zugrundeliegende Medium, dessen lose Kopplung strikte Kopplungen ermöglicht.
An sich bieten zwar die Wahrnehmungsmedien kein so breites Spektrum, wie die Kunstarten es uns vorführen.
Malerei und Skulptur, Theater und Tanz sind sämtlich auf Licht als Medium des Sehens angewiesen und Lyrik ebenso wie Erzählung (Epik, Roman) auf Sprache als Medium der Fixierung von Anschauung.
Aber die Art unterscheidet sich, in der in der Kunst Wahrnehmungsmedien als Medien geformt und in Anspruch genommen werden.
Wie kann man dann aber, um die Frage nochmals zuzuspitzen, von Einheit der Kunst oder sogar von der Einheit eines Mediums der Kunst sprechen?" (S. 186)

Eine Funktion ist zunächst einmal nichts anderes als ein Vergleichsgesichtspunkt. Ein Problem wird markiert (man spricht dann von "Bezugsproblem"), um eine Mehrheit von Problemlösungen vergleichbar zu machen und für Auswahl- oder Substitutionsleistungen verfügbar zu halten. In diesem Sinne ist funktionale Analyse ein methodisches Prinzip, das sich durch beliebige Beobachter mit beliebigen Problemstellungen (inklusive Zwecksetzungen) anwenden lässt. [...] Die Markierung von Bezugsproblemen geschieht in dem System, das mit ihrer Hilfe Problemlösungen sucht, und geschieht nur dann, wenn Problemlösungen sich anbieten. Insofern erzeugt die Lösung das Problem, das mit ihrer Hilfe gelöst wird; und die Beobachtersprache „Problem“, „Funktion“ dient nur dazu, bereits etablierte Einrichtungen im Interesse von Alternativen zu reproblematisieren; oder auch dazu, zu kontrollieren, wie weit man mit Variationen gehen kann, ohne den Funktionskontext zu sprengen." (S. 223)

Technik wird noch als durch Natur gebundene Unterscheidungskunst begriffen. Aristoteles wird dann für die entsprechende Primäreinteilung des Seins den Begriff der Kategorie (= Anklage, auf die die Welt zu antworten hat) bereitstellen. In seiner Poetik stellt Aristoteles der Dichtkunst die Aufgabe, das Mögliche (dynatön) als das Allgemeine darzustellen, nämlich als das, was notwendigerweise seine Bestimmung erreicht, wenn es daran nicht gehindert wird. (S.320)

"In der Musik findet man eine ganz ähnliche Entscheidung, die über die Ablehnung der Beschränkungen des tonalen Systems weit hinausgeht. Sie besteht in der Konzentration auf den im Augenblick aktuellen Klang und in der Zerstörung jeder Möglichkeit des Erinnerns und Erwartens, wie sie durch Melodien gewährleistet wird. Nur die Gegenwart soll zählen, und jede neue Gegenwart soll als Überraschung kommen. Da jedoch zeitlich rekursive Vernetzungen bei sequentiell gebildeten Identitäten unverzichtbar sind, läuft ein solches Programm auf die Aufhebung der Differenz von Musik und Nichtmusik hinaus. Die Form, die das gewährleisten soll, ist das unerwartbare Geräusch, das sich nur vor dem Hintergrund von Stille durch seinen überraschenden Auftritt bemerkbar macht. Und auch dann braucht es irgendeine Autorisierung, durch John Cage zum Beispiel, um kenntlich zu machen, daß es sich um Musik handelt. Dieser Entwicklung droht die Gefahr, daß die kommunikative Beziehung zwischen Künstler und Betrachter abreißt. Das Publikum wird zur Erfindung, zur Phantasie des Künstlers, wie es in einer Publikation der britischen Art & Language-Gruppe heißt, also zu einem Teil des Kunstwerks." (S. 477)

Aber die Besonderheit der modernen Gesellschaft und mit ihr: die Besonderheit der modernen Kunst kann man nur begreifen, wenn man beachtet, dass sie ihre avancierten Strukturen in Rekursionen auf der Ebene des Beobachtens zweiter Ordnung festlegt; und dass sie sich so sehr daran gewöhnt und darauf eingestellt hat, dass man sich schwer vorstellen kann, wie die Gesellschaft weiter operieren, ja menschliches Leben fortgesetzt werden könnte, wenn die Gesellschaft ganz auf die Ebene des Beobachtens erster Ordnung regredieren würde.
Damit bestätigt sich erneut, dass in der modernen Welt weder Konsens noch Authentizität als gesichert oder auch nur als erreichbar unterstellt werden könnte.
Das heisst auch, dass Individuen nicht authentisch "partizipieren" können, wenn es um Konsens geht, und dass Konsens nicht begründet werden kann, dass Individuen zwanglos (also authentisch) zugestimmt haben.
Diese Verluste sind in einer Gesellschaft, die ihre wichtigsten Operationen auf der Ebene des Beobachtens zweiter Ordnung durchführt, zu akzeptieren. Und seit langem hat sich der Begriff der Individualität diesem Sachverhalt angepasst.
...
Man sagt mit Simmel, Mead oder Sartre, dass sie erst durch die Blicke der anderen eine Identität erhalten; aber dies nur, wenn sie beobachten, dass sie beobachtet werden. (S.152f)

"Spätestens um 1600 wird für den Bereich der Malerei, Skulptur und Architektur deutlich gesagt, dass hierfür eine besondere Art von Wissen erforderlich sei, das Philosophen und Theologen nicht liefern können (zb Federico Zuccaro, 1607). Die gelehrte scholastische Begrifflichkeit erscheint als nutzlos und überflüssig. Auch die spätmittelalterliche ars/scientia-Diskussion wird nicht weitergeführt, da die Reflexion der künstlerischen Tätigkeit selbst jetzt genug Material bietet." (gilt noch nicht für die Literatur) (S. 404,405 (2017))

[Das] Wiedereintreten der Tradition in die sie nicht mehr akzeptierende Kunst nennt man "Postmoderne". Dies kann der Soziologe als bereits vorliegende Realität beobachten. Die Rekonstruktion dieser Selbstbeschreibungsgeschichte führt aber vor die Frage, ob es unterschwellig nicht auch noch eine andere Geschichte gegeben hat, in der es nicht um Einheit ging, sondern um Differenz. Wollte man dieser Vermutung nachgehen, wäre das Thema der Reflexion nicht der Sinn der Autonomie der Kunst, sondern der Sinn der Realitätsverdoppelung, in der sie sich selber einrichtet. (S. 502f)

Wenn es zb nicht um Wahrnehmung geht, sondern um Kommunikation, dann unterscheidet die Gesellschaft als operatives System zwischen realer und fiktionaler Realität (und macht damit die Welt unsichtbar). (504)

Anmerkungen

N. Luhmann beschreibt S. 137 sehr gut, was ich hier als Beobachtung 2. Ordnung bezeichne.

"Unterscheidungen sind asymmetrisch gebaut. Zumindest im Moment ihres Gebrauchs (und nur im Gebrauch sind sie gegeben) bezeichnet man die eine und deshalb nicht die andere Seite." (Zeichen als Form, S. 57)

"Die Terminologie, mit der wir bereits begonnen haben, zeigt dies hinreichend und in bemerkenswertem Detail an. Die Fragen nach Systembildung und Systemgrenzen, Funktion, Medium und Formen, operativer Schließung, Autopoiesis, Beobachtung erster und zweiter Ordnung, Codierung und Programmierung etc. lassen sich an alle Funktionssysteme stellen; und in dem Maße, als diese Fragen Konturen annehmen und Antworten finden, entsteht eine Gesellschaftstheorie, die nicht darauf angewiesen ist, einen Gesellschaft stiftenden Einheitssinn auszumachen, Gesellschaft etwa aus der Natur des Menschen oder aus einem Gründungsvertrag oder aus moralischem Letztkonsens abzuleiten. Solche Aussagen können in den Gegenstand der Theorie einbezogen und als unterschiedliche Formen der Selbstbeschreibung des Gesellschaftssystems behandelt werden. Das, was aber die Gesellschaft letztlich auszeichnet, zeigt sich in der Vergleichbarkeit der Teilsysteme.4"