Luhmann, Niklas: Die neuzeitlichen Wissenschaften und die Phänomenologie, Picus Verlag 1996. Wiener Vorlesungen im Rathaus am 25. Mai 1995, Bd. 46, ISBN-13: 9783854523451
Beschreibung
Der Soziologe Niklas Luhmann analysiert in seinem Essay über den Philosophen Edmund Husserl, der mit seiner Lehre der Phänomenologie einen bedeutenden Einfluss auf die deutschen Philosophen hatte, dessen vor 60 Jahren in Wien gehaltene Vorträge. Luhmann stellt Husserls Denken in den historischen Rahmen und skizziert die Zusammenhänge mit den gesellschaftlichen Problemen und dem Stand des Wissens seiner Zeit. Diese Darstellungsweise führt konsequent zu einer Betrachtung der Veränderungen, die sich in dem vergangenen halben Jahrhundert gesellschaftlich und in den Wissenschaften ergeben haben. Zum Zeitpunkt der Wiener Vorträge Husserls schienen etwa diktatoriale Regimes in Europa in unaufhaltsamem Vormarsch zu sein während heute, nach dem Zusammenbruch der Frontstellung des kalten Krieges, die Frage gestellt wird, ob der Staat überhaupt noch ein geeignetes Ordnungsmodell ist. Luhmann skizziert neben diesen Veränderungen jene in Oekonomie und Oekologie, im Finanzwesen, in den Wissenschaften und der Technik und andere mehr. So wie Husserls Texte in ihrer Entstehungszeit Beschreibungen waren, die auf die Gesellschaft ihrer Zeit reagierten, sieht Luhmann seine Analyse nicht als Kritik an Husserl, sondern als eine Neubeschreibung dieser Beschreibungen, mithin als Aktualisierung. "Unsere Zukunft kann nie wieder so sein wie unsere Vergangenheit. Deshalb müssen wir, was Handeln betrifft, entscheiden, und, was Erkennen betrifft, beschreiben." (N. Luhmann)
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"Schließlich ein Wort zum Stellenwert von Technik. Während Husserl sich in der Haupttendenz auf einen alteuropäischen Begriff von Vernunft beruft, ist Technik für ihn ein spezifisch neuzeitliches Phänomen. Es geht nicht mehr um Logos und List, nicht mehr um das listige Einfädeln mechanischer Ursachen in eine komplexe, Formen, Materien und Endzustände umfassende Ursachenkonstellation." (13)
"Für Husserl besteht ein enger Zusammenhang zwischen Technik und neuzeitlicher Wissenschaft als
einer Fehlentwicklung vernünftiger Rationalität. Technik wäre danach angewandte Wissenschaft, und im Vorausblick auf Möglichkeiten ihrer technischen Realisierung läge dann der Sündenfall eines sich verirrenden Rationalismus. [6]
Heute sehen wir das anders. Die historische Technikforschung hat gezeigt, daß die Technikentwicklung sich bei der Lösung ihrer eigenen Probleme in der Regel nicht auf eine bereits vorhandene wissenschaftliche Erkenntnis stützen konnte; das gilt zum Beispiel für die Entwicklung kontrollierbarer Dampfmaschinen. Es gilt für die Erfindung von Computern bis hin zur Minimisierung ihrer operativen Bestandteile, wobei das Problem ja nahezu ausschließlich in der Produktionstechnologie gelegen hatte. Erst recht zeigen heutige Probleme der technischen Bekämpfung von Folgeproblemen der Technik (Sicherheitstechnologien, Abgasreinigung, Mülldeponien usw.), daß man auf Experimentieren mit Modellversuchen angewiesen ist und nicht in Büchern nachlesen kann, wie es zu machen ist. Damit ist nicht bestritten, daß grundlegende wissenschaftliche Entdeckungen, etwa die der Quantenphysik oder die der Biogenetik im Laufe der Zeit auch weitreichende technologische Konsequenzen hatten; aber sie waren als Theorie nicht patentfähig."
6) Anders als im Krisisbuch wird das in den Wiener Vorträgen nur angedeutet. Siehe: Die Krisis des europäischen Menschentums und die Philosophie." (14)
"Es ist nur eine leichte, im Ergebnis dann aber folgenreiche Reformulierung, wenn man die Unterscheidung von Noesis und Noema durch die Unterscheidung von Selbstreferenz und Fremdreferenz ersetzt." (34)
"Die moderne Gesellschaft ist ein polyzentrisches, polykontexturales System. Sie verwendet ganz verschiedene Codes, ganz verschiedene »frames«, ganz verschiedene Leitunterscheidungen je nach dem, ob sie die Welt und sich selbst vom Standpunkt einer Religion oder vom Standpunkt der Wissenschaft, vom Standpunkt des Rechts oder vom Standpunkt der Politik, vom Standpunkt der Erziehung oder vom Standpunkt der Wirtschaft aus beschreibt. Es muß also, mit Begriffen von Gotthard Günther formuliert, transjunktionale Operationen geben, die es ermöglichen, von einer Kontextur (einer positiv/negativ Unterscheidung) in eine andere überzuwechseln und jeweils zu markieren, welche Unterscheidung man für bestimmte Operationen akzeptiert bzw. rejiziert. Würde man dabei an einer zweiwertigen Logik und an einer Methodologie der Irrtumsprüfung festhalten, würde das die Unterscheidung einer kognitionsfesten Realität ruinieren. Man würde mit Heisenberg nur feststellen können, daß die Realität an sich als ein von Erkenntnis völlig isolierter Gegenstand keine beschreibbaren Eigenschaften hat. Man braucht Realitätsunterstellungen aber nur, um eine Mehrheit von inkommensurablen Konstruktionen akzeptieren und bei Bedarf von einer zu einer anderen übergehen zu können. Genau das kann der Radikale Konstruktivismus akzeptieren. Denn Realität ist dann nichts weiter als das Korrelat der Paradoxie der selbstreferentiellen Einheit von Selbstreferenz und Fremdreferenz (oder: von Subjekt und Objekt, oder: von Bewußtsein und Phänomen). Und damit ist zugleich gesagt, daß man bei Realität an sich nicht verweilen kann. Sie ist wie ein Paradox auf »Entfaltung« angewiesen. Sie ist nur ein Hilfsmittel, um von einer Konstruktion zu einer anderen zu kommen. Die als Paradox gegebene Realität ist demnach das einzige Wissen, das unbedingt gegeben ist, das im System nicht konditioniert werden kann - und deshalb unfruchtbar bleibt." (S.40)
"Wie kann man, wäre zu fragen, die Realitätsillusion retten, wenn man doch weiß, daß alles, was als Kognition errechnet wird, intern produziert und damit abhängig ist von den Strukturen, die die Identifikation und Unterscheidungen des Systems und ihren rekursiven Gebrauch sichern?" (43)
"Man kann jetzt besser sehen, welche Perspektiven Husserl eröffnet und sich zugleich verstellt hatte. Selbstkritisch ist die Vernunft nicht auf Grund ihres europäischen Erbes, sondern nur wenn und nur insofern, als sie ihren eigenen Realitätsglauben auswechseln kann, also nicht an sich selber zu glauben beginnt." (45)
"Das leitet zu einer Begrifflichkeit über, die nicht mehr an einem bestimmten Operationstypus - seien es biochemische Synthesen, seien es neuro-physiologische Energiequantenänderungen, seien es Aufmerksamkeit dirigierende Bewußtseinsprozesse, seien es Kommunikationen - gebunden sind (!), sondern auf diesen verschiedenen Grundlagen die Reproduktion einer Differenz von System und Umwelt und, davon abhängig, Kognition zu organisieren vermögen." (48)
"Wir hätten einen Typus von Theoriedesign, der weder auf Naturgesetze alten Stils, noch auf ihre statistischen Derivate, noch auf das Leitmotiv technisch bewährter Kopplungen aufbaut. ... Es wäre keine Logik, die Konsistenz durch Ausschließung von Paradoxien zu gewährleisten sucht, sondern eher eine Theorie, die sich das Paradoxieren und Entparadoxieren ihrer Leitunterscheidungen offen hält für den Fall, daß die Formen, die sie anbieten kann, nicht mehr überzeugen. Es wäre eine Theorie selbstreferentieller, nicht-trivialer, also unzuverlässiger, unberechenbarer Systeme, die sich von einer Umwelt abgrenzen müssen, um Eigenzeit und Eigenwerte zu gewinnen, die ihre Möglichkeiten einschränken. Es wäre eine Theorie, die der Kybernetik die Aufgabe stellte, die im System selbst erzeugten Unbestimmbarkeiten zu kontrollieren." (51f.)
"So wenig wie das Bewußtsein kann auch die Kommunikation operativ in ihre Umwelt durchgreifen, denn das würde heißen: außerhalb des Systems in dessen Umwelt operieren. Im einen wie im anderen Falle kann das jedoch - mit einem verbleibenden evolutionären Restrisiko - dadurch kompensiert werden, daß die Systeme zwischen Fremdreferenz und Selbstreferenz unterscheiden und entsprechend bistabil und zukunftsoffen beobachten können." (53)