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Morris, Charles W.: Grundlagen der Zeichentheorie. in: Charles William Morris, Grundlagen der Zeichentheorie, ästhetik der Zeichentheorie, Frankfurt a.M., Fischer (1988). - ISBN 3-596-27406-0. Orig. Foundations of the Theory of Signs (1938)

Semiotik (S. 23f)
- ein Zeichen(träger) - etwas anderes als Zeichenkörper
- den Zeichen entsprechene Designate und Denotate
- die Interpretation als Zeichenbenutzer (siehe Interpretant)
zit in: Vigener, G., 1979, S. 28


[ Semiotik Nachdruck (Auszug) ] Sprachwissenschaft: Ein Reader, Ludger Hoffmann, Walter de Gruyter, 17.06.2010 - 967 Seiten
Der Band enthält klassische und hinführende Texte zu den Kernbereichen und wichtigsten Theorien der Sprachwissenschaft

Charles W. Morris: Grundlagen der Zeichentheorie: Semiotik, (im Reader S. 112f)

II. Semiotik

Es ist angebracht, den Gebrauch einiger Grundbegriffe der Semiotik, die in diesem Text immer wieder vorkommen, anzugeben. Als Zeichenprozess (Semiose) bezeichnen wir jede Situation, in der etwas durch die Vermittlung eines Dritten von etwas, das nicht unmittelbar kausal wirksam ist, Notiz nimmt; jeder Zeichenprozess ist also ein Prozess des "mittelbaren Notiz-Nehmens-von". Ein Pfeifen bestimmter Art bringt jemanden dazu, so zu handeln, als ob sich ein Eisenbahnzug nähert, von dem er sonst nichts wahrnimmt; für die Person, die dieses Pfeifen hört, bezeichnet der Laut dann einen sich nähernden Zug. Das, was als Zeichen operiert (d. h. was die Funktion hat, etwas zu bezeichnen) nennt man Zeichenträger; die Handlung des mittelbaren Notiznehmens wird Interpretant genannt und von einem Interpreten ausgeführt; das, wovon mittelbar Notiz genommen wird, nennen wir Designat. Entsprechend dieser Definition muss jedes Zeichen designieren ("ein Designat haben"), aber es braucht nicht akutell irgendetwas zu denotieren ("braucht keine Denotate zu haben"). Man kann von einem näherkommenden Zug Notiz nehmen (so handeln, als ob sich ein Zug näherte), selbst wenn in Wirklichkeit kein Zug kommt; in diesem Falle designiert der vernommene Laut, aber er denotiert nicht ("hat ein Designat, aber keine Denotate"). Ein Designat ist also eine Klasse von Objekten, die durch bestimmte definierende Eigenschaften ausgezeichnet sind, und eine Klasse braucht keine Elemente zu haben; die Denotate sind die Elemente - falls es überhaupt welche gibt- der betreffenden Klasse.

Die Beziehungen der Zeichenträger zu dem, was designiert oder denotiert wird, sollen semantische Dimension der Semiose heissen und die Untersuchung dieser Dimension Semantik; die Beziehungen der Zeichenträger zu den Interpreten wollen wir pragmatische Dimension der Semiose und die Untersuchung dieser Dimension Pragmatik nennen; die semiotisch relevanten Beziehungen der Zeichenträger zu anderen Zeichenträgern bezeichnen wir als syntaktische Dimension der Semiose und ihre Untersuchung als Syntaktik. Als allgemeine Wissenschaft von den Zeichen enthält die Semiotik also die Teildisziplinen Syntaktik, Semantik und Pragmatik.

Ein Zeichen ist vollständig analysiert, wenn seine Beziehungen zu den anderen Zeichen, zu seinen aktuellen oder potentiellen Denotaten und zu seinen Interpreten bestimmt worden sind. Die Bestimmung dieser Beziehungen in konkreten Fällen von Semiose heisst Zeichenanalyse. Eine gründlichere Diskussion dieser Dinge findet sich in den Grundlagen der Zeichentheorie; das folgende Diagramm soll den Gebrauch der Begriffe festigen helfen:

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Die Grundfragen der semiotischen Diskurse betreffen neben den Funktionen der Zeichen auch die ihnen eigene Struktur. Was macht überhaupt etwas zu einem Zeichen, worauf beruht die Zeichenhaftigkeit einer Gestalt, einer Sache, einer Wahrnehmung, eines Ereignisses? In Analogie zum Begriff der Gesetzeskraft, zum autoritativen Wort, kann man von der "Zeichenkraft", der Fähigkeit zur Repräsentation, sprechen. Worauf beruht diese Zeichenkraft? Sie beruht offensichtlich auf unterschiedlichen Beziehungen, die eine Sache zu einer anderen unterhalten kann. Die Anzahl solcher möglicher Relationen ist begrenzt. Sie dienen von jeher als wichtigstes Instrument der Klassifikation von Zeichentypen. Am berühmtesten ist die dreifache Klassifikation von Peirce geworden, der die Vielfalt der Zeichen in die Rubriken Index, Ikon und Symbol einordnete (vgl. Art. 100). Dabei ist festzuhalten, dass in denselben Signifikanten unterschiedliche Zeichenkraft wohnen kann. Worte etwa können sowohl als äusserung einer Mitteilung (symbolisches Zeichen) als auch als Anzeichen für den Gemüts- oder Geisteszustand eines Sprechenden aufgenommen werden (indexikalisches Zeichen). Das Peircesche Klassifikationsschema, das ältere semiotische Ordnungsmodelle in sich aufgenommen hat, soll im folgenden kurz skizziert und um zwei Stellen erweitert werden.

2. l. Manifestation (indexikalische Zeichen)

Indexikalische Zeichen beruhen auf einer metonymischen Relation; sie sind als Wirkungen oder Symptome ein Teil der Sache, die sie bezeichnen. In diesem Fall wird etwas Unsichtbares durch etwas Sichtbares angezeigt, das aus verschiedenen Gründen der direkten Evidenz in der Gegenwart entzogen ist — sei es, dass es in der Vergangenheit liegt (z. B. das Laktieren als Indiz für stattgehabte Mutterschaft), dass es erst später eintritt (die Gewitterwolke als Indiz für bevorstehendes Unwetter) oder überhaupt unsichtbar ist (die Flecken auf der Haut für einen verborgenen Krankheitsherd im Körper, die Schamrötefür emotionelle Erregung). Diese Zeichen wurden auch "natürliche" genannt, weil sie nicht eigens vom Menschen hergestellt werden, sondern sich von selbst einstellen, bzw. "Universalzeichen", weil man annahm, dass sie für alle Menschen dieselben sind (vgl. Art. 62 § 2. l.). Bei natürlichen Ursache-Wirkungs-Zusammenhängen spricht man in der Regel von Anzeichen,- bei somatischen Vorgängen von Symptomen, bei unsinnlichen Subjekten (wie Geist, Geschichte oder Transzendenz) von Objektivationen bzw. Chiffren. Ein absichtlicher Mitteilungswille wird in keinem der Fälle vorausgesetzt, vielmehr "zeigt sich etwas".

Die Erscheinungen sind Zeichen überhaupt nur für denjenigen, der sie als solche zu lesen weiss. Einem Teil dieser Zeichen, zum Beispiel den körperlichen Symptomen, kann nachträglich aufgrund von Beobachtung und Erfahrung eine Gesetzmässigkeit unterstellt werden, weshalb Aristoteles sie unter dem Begriff des Enthymems für syllogistische und juristische Beweisverfahren in Anspruch nahm (vgl. Art. 40 §2.1.). Ein anderer Teil wie die physiognomischen Zeichen bleiben in ihrer Bedeutung umstritten (man denke an die Kontroverse zwischen Lavater und Lichtenberg über die (Un-)Lesbarkeit körperlicher Merkmale, vgl. Barta Fliedl und Geissmar 1992). Ein dritter Teil, wie Kants "Geschichtszeichen", Heideggers "Sprechen der Sprache" oder Jaspers' "Chiffren der Existenz" (vgl. Art. 74) gelten als unerschöpflich bedeutungsvoll, sind aber auf keine eindeutigen Bedeutungen zurückführbar.

2.2. Abbildung (ikonische Zeichen)

Ikonische Zeichen fungieren als Abbilder. Ihre Zeichenhaftigkeit beruht auf der ähnlichkeit mit der Sache, die sie bezeichnen. In jede Abbildung gehen notwendig mehr Merkmale ein, als für eine eindeutige Identifikation des Abgebildeten nötig sind; andererseits kann immer nur ein Teil der Merkmale des Darzustellenden erfasst werden. Daraus ergibt sich, dass abbildende Zeichen auf Mehrdeutigkeit angelegt sind. ähnlichkeitsbeziehungen beruhen nicht unbedingt auf rein optischer Evidenz; sie können auch durch eine kulturelle Semantik wie die Allegorese organisiert und vorgegeben sein. Platon, der die Worte als Abbilder von Sachen auffasste, setzte eine Kongruenz zwischen der Zeichenform und dem Wesen der Sache voraus. Auf dieser Annahme beruht das in der Antike und im Mittelalter so beliebte Verfahren der Etymologie, das diesen ähnlichkeitsbeziehungen in der Lexik nachgeht (vgl. Art. 59 § L).

2.3. Stellvertretung (symbolische Zeichen)

Symbolische Zeichen (auch "konventionelle", "willkürliche", "arbiträre" genannt) fungieren als Stellvertreter. Ihre Verbindung zur Sache, die sie bezeichnen, beruht auf einem Kode. Durch das vom Kode definierte Beziehungsgefüge sind sie von allen abbildenden Aspekten befreit. Zwischen Signifikanten und Signifikat wird keine wie auch immer geartete ähnlichkeit unterstellt. In scholastischer Terminologie heissen diese Zeichen "signa ad placitum" oder "ex imposi-tione" (vgl. Art. 49). Man nahm an, dass sie ihre Zeichenkraft entweder durch einen förmlichen Einsetzungsakt nach dem Modell der Gesetzgebung ("institutio") oder durch Gewohnheit ("usus", "consuetudo", "habi-tus") erhalten (Art. 62 § 2.3.). Die Semiotik fasst heute beide Modi unter dem Begriff des Kode zusammen. Das Interesse verlagert sich dabei vom Ursprung der Zeichen auf ihre Funktionsweise. In diesem Licht, das vor allem die strukturalistische Forschung verbreitete, liess sich die Zeichenkraft der symbolischen Zeichen auf ihren differentiellen Wert innerhalb eines Systems zurückführen. Die symbolischen Zeichen sind aufgrund ihres distinktiven Charakters eindeutig. Sie tendieren zur Reduktion. Entscheidend ist allein die Qualität der Wiedererkennbarkeit. Idealiter schrumpft ihr Bedeutungsumfang auf ein einziges Merkmal zusammen. Diese Schematisierungsstufe ist bei festen Bildformeln, Buchstaben sowie identifizierenden Attributen erreicht (vgl. Art. 55 § 9. und 20.).

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