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Formalisierung nenne ich die begriffliche Abstraktion, in welcher ich von der Bedeutung und der Konstruktion einer Sache absehe. Meine einfachste und massenhafte Formalisierung ist die Reduktion auf Wert im Sinne von Tauschwert. 100 Euro kann für beliebige Dinge stehen, die 100 Euro wert sind. Mit Tauschwerten kann ich rechnen und Unvergleichbares vergleichen. Wenn ich die entsprechenden Quanitäten nehme, sind Schuhwichse, Gold und Weizen gleich (viel wert). Für doppelt soviel Weizen krieg ich dann auch doppelt soviel Gold. Die Formalisierung gibt verschiedenen Dingen quasi die gleiche "Form" (Anmerkung 1).
Wenn ich eine thermostatengeregelte Heizung und den Organismus eines Menschen als System auffasse, kann ich beides gleichmachen, indem ich beide auf eine gleiche Funktionsweise reduziere. Ich nenne "System" deshalb einen formalen Begriff, weil er nichts über die Bedeutung und die Form seines Referenten aussagt (Anmerkung 2). Systeme kann ich formalisieren, indem ich sie auf ein Kalkül reduziere. Ein Kalkül ist eine formale Beschreibung einer Konstruktion, mit welcher man kalkulieren kann. Kalkulieren heisst dabei so operieren, dass numerische Variablenwerte verändert werden. Wenn ich eine thermostantengeregelte Heizung mit einem Kalkül beschreibe, beschreibe ich welche zahlenmässigen Differenzen im System zu welchen Operationen und mithin zu welchen neuen Differenzen führen. Das heisst, ich berechne Systemzustände unabhängig davon, wofür die Systeme stehen und ohne zu sagen, wie diese Differenz mechanisch oder konstruktiv realisiert wird (Anmerkung 3). |
Wenn ich das Kalkül "versprachliche", kann ich beispielsweise von einer "Differenz" zwischen dem Istwert xund dem Sollwert (u) sprechen und etwa sagen, dass aus dieser Differenz (X) eine Massnahme y abgeleitet wird, die dazu führt, dass sich ein bestimmter Wert im System verändert. Der Thermostat ist in dieser Redeweise eine "systemtheoretische Funktion", die bestimmte Eingangswerte (u) und (s) in bestimmte berechenbare Ausgangswerte (x) umwandelt. Umgekehrt kann ich für einen gewünschten Ausgangswert (x) passende Funktionen suchen. Wenn x die Raumtempertaur in Grad Celsius repräsentiert, muss die Variable beispielsweise den Wert "20" enthalten. Wie diese Funktionen in konkreten Heizungen umgesetzt werden, interessiert mich in dieser formalen Perspektive nicht, weil ich in dieser Perspektive ja gar nicht an Heizungen oder andere inhaltlich gebundenen Zusammenhänge denke.
Aus der funktionale Orientierung solcher Redeweisen könnte man - und nicht wenige tun es - folgern, dass mit diesen Redeweisen gerade nicht Mechanismen, sondern etwas Allgemeineres beschrieben wird. Weil dieses Allgemeinere als Funktionsweise erscheint, wird der Ausdruck "System" oft abstrakt auf die Funktionsweise und nicht auf deren materiellen Träger bezogen. Das System erscheint dann als "rein geistige" Funktionsweise, die nicht nur keinen bestimmten, sondern überhaupt keinen Träger braucht (Anmerkung 4). Dementsprechend gibt es auch eine unsägliche, aber weitverbreitete Diskussion darüber, ob es Systeme (wirklich) gebe, oder ob sie nur als geistige Konstrukte im Kopf des Beobachters seien. Ueber diese Unterscheidung werde ich später mehr sagen. Für mich gibt es Systeme genau so, wie es Mechanismen - allenfalls wirklich - gibt (Anmerkung 5). Mit dem Ausdruck "System" drücke ich nur aus, in welchem Sinn ich über Mechanismen spreche.
Interpretiere obiges Schema an einem konkreten Mechanismus (aber nicht an einer Heizung)! |
Da das Schema sehr einfach ist, muss natürlich auch der Mechanismus einfach sein! (Es geht hier auch darum, sich nach andern Mechanismen umzuschauen). |
Beispiel:
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Als Beobachter kann ich die Formalisierung funktional betrachten und mich fragen, wem sie wie und wozu dient. In den Ingenieurwissenschaften macht sie naheliegenderweise Sinn, weil dort gerechnet werden muss und auch klar ist, was berechnet wird. Dementsprechend wird in Systemtheorien für Ingenieure - das Fach wird auch Automatik genannt - praktisch nur der Formalismus behandelt, während die konstruktiven Aspekte in der Konstruktionslehre behandelt werden. In den ökomischen Sozialwissenschaften macht der Formalismus teilweise - nämlich solange es um Geld geht - Sinn, weil mit Geld ja eine quasi naturwüchsige Formalisierung zur Verfügung steht. K. Marx hat diese Naturwüchsigkeit kritisiert und damit vielen formalen systemtheoretischen Argumenten den Boden entzogen, wie im Positivismusstreit der deutschen Soziologie nachzulesen ist. In den Geisteswissenschaften erscheint der Formalismus praktisch nie, weil es dort selten etwas Berechenbares gibt. Dagegen dient die Systemtheorie als qualitative Methode zur Darstellung von Zusammenhängen und oft profitiert diese Methode von einer vermeintlichen Wissenschaftlichkeit, weil sie - im Prinzip - mathematisch gesichterte Berechnungen zulässt. Das Kalkül von G. Spencer-Brown beispielsweise wird oft zitiert, um irgendwelchen Argumenten mathematischen Anschein zu geben.
Ich betrachte den Formalismus als Bestandteil einer umfassenderer Technologie. Da Systeme und Mechanismen für mich in gewisser Hinsicht dasselbe sind, sehe ich in der Systemtheorie eine Technologie des Erklärens. Konstruktive Erklärungen kann man immer so weit führen, wie es die Ingenieurswissenschaft vermag. Man kann alle hinreichend komplizierten Erklärungen "berechnen". Ich bin einfach sehr oft mit viel weniger zufrieden. Das Beispiel von Heron etwa lässt sich durch Berechnungen (ent)plausibilisieren. Wenn ich weiss, wie schwer die Tempeltüren sind und wie hoch der Wirkungsgrad des Antriebes ist, kann ich berechnen, wie lange ein wie grosses Feuer brennen müsste, damit die Türen wirklich aufgehen. Noch ohne zu rechnen glaube ich zu sehen, dass ich dieser Tempel - wie C. Babbage's Computer - nur auf dem Papier existierte, obwohl er im Prinzip realisierbar wäre.
Ein grosser Teil der Technologie und mithin der Systemtheorie ist mathematisch formuliert. Mathematische Funktionen (y=(f)x) formuliere ich jenseits von Konstruktionen. Es ist gewissermassen der Witz der Mathematik, dass sie sich nicht um materielle Bedingungen kümmert. 1 + 1 = 2 gilt unabhängig davon, ob ich an Aepfel oder an Birnen denke. Für R. Ashby, einen prominenten Vertreter der Kybernetik, der diese insbesondere auch gegen die antimechanistischen Angriffe von L. von Bertalanffy verteidigte, ist es "eine Qualität der Systemtheorie, dass deren 'Modelle' die Eigenschaft 'materiell' weglassen können". Die mathematische Formulierung ermöglicht eine quantitative Beschreibung der Temperaturregelung unabhängig davon, ob die Temperatur eines Hauses oder eines Organismus geregelt wird. Allerdings verschwinden in der Mathematik auch alle Unterschiede zwischen einem geheizten Haus und einem menschlichen Körper.
Genau auf diesen Punkt zielte die spätere Phase des Positivismus-Streites, in welcher sich J. Habermas und N. Luhmann als Stellvertreter der Kritischen Frankfurter Schule und der soziologischen Systemtheorie nochmals über den Sinn von Theorien stritten. J. Habermas bezeichnete die Systemtheorie als reaktionär, weil sie nur dazu tauge, bestehende Verhältnisse quantitativ zu optimieren. Dem konnte N. Luhmann nichts entgegenhalten, weil er damals die Systemtheorie im amerikanisch-soziologischen Fahrwasser tatsächlich so verwendete.
Wenn mir klar ist, worüber ich spreche, ist mir auch klar, was ich optimiere. Zu den Temperaturverläufen in meinen Haus und in meinem Körper hätte ich sehr gerne Optimierungen. Keine Theorie heizt meinen Körper oder mein Haus. Theorien leistn etwas anderes.