Als "Differenztheorien" bezeichne ich Theorien, deren Referenzobjekte nicht Erklärungen sind, sondern Vereinbarungsverfahren in Form von Differenzen. Differenztheoretisch ist eine "Differenztheorie" eine Differenz zwischen einer Theorie und einer Differenztheorie, die alternativ anstelle einer Theorie steht, wenn nicht Erklärungen, sondern Beobachtungen plausibilisiert werden sollen.
Ich unterscheide drei Formen:
1) Differenz als Resultat einer Beobachtungsoperation
Beispiel:
System := System/Umwelt (Ein System ist die Differenz zwischen einem System und seiner Umwelt)
Man kann das etwa so lesen: Wenn ich System sage, bezeichne ich die Unterscheidung zwischen System und Umwelt. Diese Art der Vereinbarung von Ausdrücken zitiert also eine Unterscheidung, die als Beobachtungs-Operation beschrieben wird. So spreche ich nicht über das System an sich, also nicht über eine "ontologische Wesenheit", der ich Eigenschaften zuordne, sondern ich spreche über eine Beobachtung, die eine Differenz einführt, das heisst, ich mache eine Beobachtung 2. Ordnung, in welcher ich die Unterscheidung einer (implizierten) Beobachtung beobachte. (Ein ausführlicheres Beispiel: Risiko := Risiko/Gefahr).
Man kann System natürlich auch von etwas anderem abgrenzen. Man beobachtet dann aber ein anderes System als dasjenige, das duch die Unterscheidung System/Umwelt gesehen wird. Daraus folgt, dass die Differenztheorie keinen Systembegriff kennt, sondern nur Verwendungen eines jeweiligen "Systembegriffes", der in der Verwendung, sozusagen als Momentum entsteht. Die Frage ist nicht, was ist ein System, sondern mit welches Differenz wird gerade über ein System gesprochen.
Als Re-entry erscheint ein dennoch stabiler System-Begriff, wo mit System ausschliesslich eine und dieselbe Differenz bezeichnet wird, die einmalige Verwendung also quasi eingefroren wird.
Mit dem Ausdruck Differenztheorie wird konventionellerweise (das heisst im Umfeld von J. Derrida und N. Luhmann) diese Differenzbildung bezeichnet. Sie hat ihren (selten reflektierten) Ursprung im Scheidegeld, im welchem sich die Verfassung (Konstitution) von ihrer materiellen Grundlage befreit. Indem man Münzen machte, die einen bestimmten Wert repräsentierten, der durch die Prägung sichtbar war, hatte man praktisch eine Differenz zwischen Wert und Wert, zwischen dem Wert, der drauf steht und dem Wert, der drin ist, eingeführt. Man muss sich de facto jedes Mal entscheiden, ob nun der Goldwert oder der "geprägte" Wert gelten soll, wenn man eine Differenz vermutet. Wenn der Goldwert kleiner oder viel kleiner ist als das, was die Prägung verspricht, muss man sich überlegen, ob man der Prägung trauen soll. Wohl weil sich in diesem Punkt die Geister scheiden, wird solches Geld als Scheidegeld bezeichnet: Die beiden Werte sind geschieden, weshalb sie immer zusammengedacht werden.
2) Differenzen als Ausdruck eines dialektischen Verhältnisses.
Beispiel 1:
System als Differenz zwischen System und Umwelt versus System als Differenz zwischen Mechanismus und Mechanismus als Erklärung.
Im einen Fall bezeichne ich eine total abstrakte Unterscheidung, die keinerlei Funktion benennt. Im andern Fall bezeichne ich eine Unterscheidung, die einen Kontext mitbestimmt. Systeme kommen dort ausschliesslich in Erklärungen vor.
Beispiel 2:
Ein Computer-Programm kann dialektisch als Differenz zwischen einem Text und einer Instanz des Programm-Objektes, das den schaltsinnmässigen Zustand des mit dem Programm gesteuerten Automaten bestimmt, gesehen werden.
Im einen Fall bezeichne ich eine Unterscheidung zwischen einem Text, der in einer Programmiersprache geschrieben wurde, und einem anderen Text. Im andern Fall bezeichne ich ein Differenz zwischen einer Art Maschine, die eine Art geistig-abstrakte Intelligenz hat und anderen, beispielsweise nur mechanischen Maschinen.
Diese Differenzen bestehen in verschiedenen Beobachterpositionen, die sich in verschiedenen Differenzen zeigen. Die Dialektik ergibt sich im Widerspruch zwischen Beobachtern, die darüber streiten, mit welcher Differenz über ein System oder ein Programm gesprochen werden soll. Beiden Seiten ist dabei klar, dass weder en System noch ein Programm ist, dass es aber entscheiden ist (einen Unterschied macht), wie man darüber spricht.
3) Differenz als Ausdruck einer begrifflichen Entwicklung.
Beispiel:
Programmieren als Differenz zwischen Beschreiben und Herstellen, worin das Beschreiben zum Herstellen wird.
Begriffe unterliegen einem Entwicklungsprozess ihrer Referenzobjekte. Die Erfindung der Programmiersprache verändert das Begreifen des Herstellungsprozesses von Automaten (R. Todesco: Technische Intelligenz).
Liste: Differenztheoretische Definitionen in diesem Hyperlexikon (siehe auch : Differenztheoretische Notation):
Anmerkung
Die differenztheoretische Bestimmung eines Begriffes ist immer eine "Alternative", wobei eine Alternative ja nicht alleine sein kann, sondern eine Alternative braucht. Wenn ich "Wissen" als einen Begriff beobachte, habe ich Alternativen in bezug auf meine Unterscheidungen (Definitionen), so dass der Begriff vielfältig wird. Ich kann aber auch einem Ausdruck verschiedene Begriffe zuordnen, ihn also zum Homonyme oder zur Metapher machen. Und oft muss ich mich zwischen diesen beiden Alternativen gar nicht entscheiden. Ich kann in der Schwebe lassen, ob ich durch meine Differenzen einen vielfältigen Begriff oder vielfälltige Begriffe habe.
Offene Fragen: bei R. Müller
Differenztheorie im Recht:
Nach der Differenztheorie tritt der Schadensersatz an die Stelle von Leistung und Gegenleistung. Der Gläubiger ist nicht mehr zur Leistung verpflichtet (§326 I BGB). Sein ersatzfähiger Schaden besteht in der Differenz zwischen Leistung und Gegenleistung.
Differenztheorie als Kalkül
Das Kalkül von G. Spencer-Brown wird manchmal (etwa in der Wikipedia) als Differenztheorie bezeichnet (obwohl es ein Kalkül und eigentlich auch kein Kalkül darstellt.
Hintergrund
H. von Foerster hat das Form-Kalkül von G. Spencer Brown als Formalisierung seiner Systemtheorie 2. Ordnung gedeutet, was N. Luhmann aufgegriffen und mit dem Differance-Ansatz von J. Derrida vermengt hat. J. Derrida wurde für seine Art der Begriffslosigkeit von viele Seiten ausführlich kritisert. In den Texten von H. von Förster bleibt ganz unklar, was er sich von "seltsamen" Logiken (wie jenen von G. Günther und G. Spencer Brown) versprochen hat. Bei N. Luhmann und J. Derrida lassen sich gar keine Versuche finden, die Logiken ernsthaft statt nur heuristisch aufzunehmen. N. Luhmann beobachtet Beobachtungen als Einheiten von Differenzen, die er als Sinn bezeichnet. Während bei J. Derrida von einer negativen Dekonstruktion die Rede ist, erfindet N. Luhmann positiv soziale Systeme, die ganz zufällig jenen des herrschenden Diskurses entsprechen: Gesellschaft, Wissenschaft, Politik, usw.
Im Kalkül von G. Spencer-Brown wird eine Art des Rechnens beschrieben, während die Bielefelder Systemtheorie das von ihr gemeinte "System" als Differenz zwischen System und Umwelt behandelt. Die Bielefelder Theorie kann also als Argumentation gesehen werden, die die Awendung eines Formalismus plausibilisiert.